(12) - Schreck und weg

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Als ich vor der Wohnungstür meiner Mutter stand, atmete ich tief durch. Ich versuchte mich irgendwie auf das vorzubereiten, was ich meiner Mutter sagen musste. Aber egal wie ich es versuchte, ich konnte mir gerade keine Sätze formulieren und zurechtlegen.
Langsam bewegte ich meinen Finger auf die Klingel zu. Das laute Geräusch ließ mich noch nervöser werden. Hätte ich nicht noch einen Moment warten können? Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Bevor ich mich noch weiter mit diesen Gedanken befassen konnte, öffnete sich die Tür und ich stand meiner Mutter gegenüber.
Perplex sah sie mich an.
"Talessa, was machst du denn hier?", fragte sie überrascht mit einem kurzen Blick auf ihre Uhr.
Ach richtig, normalerweise arbeitete ich ja noch. Aber auf den alltäglichen Ablauf in der Apotheke hätte ich mich jetzt keinesfalls mehr konzentrieren können.
Mein Hals war ziemlich trocken. Ich räusperte mich.
"Hast du gesehen, dass du einen verpassten Anruf hast?", fragte ich meine Mutter vorsichtig.
Sie kratzte sich mit verwirrtem Gesichtsausdruck am Hinterkopf.
"Nein, ich bin gerade erst aufgewacht", sagte sie dann nachdenklich. "Wieso? Wer sollte angerufen haben? Ist etwas passiert?" Plötzlich wirkte sie sehr aufgewühlt und ernst. Anscheinend merkte man mir an, dass irgendetwas nicht stimmte.
Ich räusperte mich wieder, weil ich sonst fürchtete, nicht reden zu können.
"May ist im Sportunterricht gestürzt, deswegen hat die Schule mich informiert. Sie ist jetzt in der Klinik am Südring, muss da auch über Nacht bleiben. Ich wollte ihr gerade ein paar Klamotten holen", sagte ich dann so schnell, dass ich fast schon undeutlich sprach.

Meine Mutter starrte mich geschockt an, dann schien sie die Situation zu realisieren.
"Um Himmels willen!", rief sie aus, "Und ich lag da und habe geschlafen? Kind, lass mich dir bei den Klamotten helfen, dann fahren wir zusammen zum Krankenhaus."
Sie ließ mich an der Tür stehen und eilte aufgewühlt in das Zimmer meiner Schwester. Ich biss mir nervös auf die Lippe und folgte ihr.
In Mailins Zimmer stand sie vor dem Schrank und zog wahllos ein paar Kleidungsstücke heraus.
"Mum", sagte ich leise und trat neben sie, "Ich kann das machen."
Ich nahm meiner Mutter die Klamotten ab, die sie gerade in den Händen hielt, und legte eine kleine Auswahl davon in einen leeren Rucksack.
Meine Mutter ließ mich machen und stand ziemlich hilflos wirkend neben mir.
Ich schulterte den Rucksack und sah dann zu ihr.
"Gehen wir?", fragte ich.
Sie nickte. "Wir gehen."

Den Weg zur Klinik fuhr ich. Es fühlte sich zwar immer noch so an, als wären meine Beine aus Wackelpudding, aber im Gegensatz zu meiner Mutter fühlte ich mich noch recht sicher. Sie saß mit wippendem Knie und dem Rucksack für Mailin auf dem Schoß neben mir auf dem Beifahrersitz und sah wortlos aus der Frontscheibe.

Kaum hatte ich den Motor ausgestellt, sprang meine Mutter schon aus dem Wagen. Ich hatte Mühe, sie wieder einzuholen.
"Wo müssen wir hin?", fragte sie, während wir die Klinik betraten.
Die Antwort war eigentlich offensichtlich, doch ich antwortete trotzdem. Sie war völlig durch den Wind und bekam wohl gar nichts mehr kombiniert.
Meine Augen überflogen den Plan, welche Station in welchem Stockwerk lag, während meine Mutter ungeduldig mit dem Fuß wippte.

Auf Station rannten wir förmlich einer Ärztin in die Arme.
"Wo liegt meine Tochter Mailin?", kam es direkt von meiner Mutter.
"Mama, beruhig dich erst mal", flüsterte ich ihr zu und wandte mich an die Ärztin, die trotz des halben Überfalls freundlich lächelte.
"Talessa Wiemke, wir suchen meine Schwester. Also ihre Tochter. Mailin, sie wurde vorhin eingeliefert."
"Tabea Rohde mein Name." Sie reichte uns die Hand. "Ich komme gerade von Mailin."
"Was ist mit ihr?", wurde Frau Rohde unterbrochen.
Ich warf Mama einen warnenden Blick zu, doch die Ärztin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern lächelte total verständnisvoll.
"Sie hat sich bei einem Sturz den Arm gebrochen und ist mit dem Kopf aufgekommen. Da sie eine kurze Zeit bewusstlos war, behalten wir sie über Nacht zur Beobachtung hier. Aber ihr geht es den Umständen entsprechend wieder gut", erklärte sie uns und wies uns in Richtung des Zimmers. "Der Bruch muss nicht durch eine OP gerichtet werden, ein Gips reicht."
Ich war auf der Stelle ein Stückchen erleichterter. Eine Operation wäre nicht so schön gewesen.

Als wir das Zimmer betraten, verabschiedete sich die Ärztin von uns. Mailin empfing uns ziemlich freudig und lächelte uns an. Sofort lächelte ich zurück und verdrehte in Mamas Richtung die Augen. May verstand und ihr Lächeln wurde noch breiter.
"Wie geht es dir mein Schatz? Alles okay? Hast du Schmerzen? Wie konnte das passieren?", wurde Mailin sofort bombardiert.
"Mein Kopf und mein Arm tun weh, aber ich habe gerade nochmal etwas dagegen bekommen", gab meine Schwester ruhig von sich. Sie schien etwas müde und war blass, doch das war kein Vergleich zu vorhin.

"Ich glaube, ich lasse euch mal allein", entschied ich spontan und verließ nach einem Nicken meiner Mutter das Zimmer.
Vor der Tür blieb ich kurz stehen und schloss meine Augen. Das war schon wieder so viel Stress, auf den man sich einfach nicht vorbereiten konnte.
"Was machst du denn hier?", sprach mich plötzlich eine nur allzu bekannte Stimme an.
Ich riss erschrocken meine Augen auf und boxte Alex reflexartig in den Oberarm. "Erschrick mich doch nicht so."
Er grinste, dann wurde sein Gesichtsausdruck ernster.
"Ist Mailin etwas passiert?", zog er augenblicklich die richtigen Schlüsse.
Ich nickte. "Sportunfall. Aber was treibst du dich hier herum? Nicht so dein Einsatzgebiet, dachte ich."
"Ich bin einfach ein netter Notarzt", gab er selbstgefällig von sich. "Ich habe hier schnell einen Rucksack eines kleinen Patienten abgegeben, der bei der Einlieferung vergessen wurde", erklärte er dann aber schnell. "Sag mal, kann ich kurz nach May gucken?"
Als Antwort trat ich von der Tür weg. "Sie steht dir offen."

Mailin war über Alex' spontanen, wenn auch kurzen Besuch sehr erfreut.
Ich begleitete Alex noch nach unten. Flo stand augenscheinlich wartend an das NEF gelehnt und nickte mir grüßend zu. Ich erwiderte.
Mein Blick haftete noch einen Augenblick unschlüssig auf Alex.
"Dann- bis später mal", sagte ich schließlich und umarmte ihn kurz.
"Pass auf dich auf."

Ich sah dem Fahrzeug noch hinterher, wie es wegfuhr, und machte mich dann langsam auf den Rückweg.
Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass ich jetzt Dienstschluss hatte. Ich schulterte meine Tasche und griff automatisch an die Stelle, wo ich meine Jacke immer befestigte. Und griff ins Leere. Ich hatte sie in der Apotheke vergessen.
Abrupt drehte ich mich auf dem Gehweg um und lief den kleinen Umweg über meine Dienststelle.

Die Glocken über der Eingangstür läuteten leise, als ich eintrat. Kein Kunde weit und breit.
"Ah, da bist du ja", tönte plötzlich eine Stimme hinter mir und ich fuhr erschrocken herum. Mein Kollege stand hinter mir und hielt mir meine Jacke hin. "Die hast du vergessen."
Ich ließ die Luft raus, die sich durch diesen erschreckenden Moment angestaut hatte, und nahm sie ihm ab.
"Danke", sagte ich dann.
"Mach ich doch gerne." Bert zwinkerte mir zu. "Wie geht es deiner Schwester?", wollte er dann wissen.
"Den Umständen entsprechend", antwortete ich ziemlich knapp. Ich wusste selbst nicht, warum ich darauf nicht weiter eingehen wollte. Plötzlich war mir die Atmosphäre im Raum sehr unangenehm.
"Oh", kam es von Bert.
"Dann bis morgen", brachte ich noch hervor und floh schon fast aus der Apotheke. Was ein Tag. Alles in mir sehnte sich gerade einfach nur nach Ruhe.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch, macht etwas daraus :)

Scars || ASDSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt