(16) - Ein Gefühl der Enge

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Der restliche Tag verlief komisch. Meine Mutter wirkte gelöst, doch gleichzeitig hatte ich das bittere Gefühl, dass dieser Zustand nur von kurzer Dauer sein würde.
Ich konnte sie am Abend zwar beruhigt allein lassen, doch meine gemischten Gefühle quälten mich noch bis in die Nacht. Verfolgten mich, verunsicherten mich, hielten mich wach. Fast hatte ich Angst, einzuschlafen und damit nicht da zu sein, wenn man mich brauchte.

Die Müdigkeit, die mit allen Kräften von allen Seiten an mir zu zehren schien, leistete sich einen verbitterten Kampf mit den immer wieder aufkochenden Emotionen, die mich zu zerreißen schienen.
Ich wälzte mich unruhig im Bett, von der einen Seite auf die andere, vom Rücken auf den Bauch.
Letzten Endes lief ich voller Verzweiflung in die Küche, um mir eine warme Tasse Tee hinunter zu stürzen.
Doch auch das half nur oberflächlich, wenn nicht sogar gar nicht. Es war viel eher ein Zeitvertreib, um mich nicht so elend zu fühlen, wenn ich wach im Bett lag.
Nach einigen gefühlten Stunden zog es mich dann in einen unruhigen Schlaf.
Für eine Stunde, wenn ich großzügig war, danach war es erneut vorbei. Ich war am Anfang angekommen und konnte nur erahnen, wie mein Kissenbezug in der durch die allmählich aufgehende Sonne heller werdenden Dunkelheit die Tränen aufnahm.

Nach der dritten Lage Concealer gab ich frustriert auf und schmetterte den kleinen Behälter achtlos in die Tasche zurück. Auch die beste Deckkraft konnte heute wohl nichts ausrichten. Mein Gesicht bestand aus zwei hervorstechenden Augenringen, die das Highlight unter meinen roten Augen bildeten. Ich sah aus, als wäre ich aus einem Horrorfilm entsprungen. Die Hauptrolle höchstpersönlich.

Da mein gesamter Körper heute nicht wirklich so wollte wie ich, war ich zu allem Übel auch noch spät dran.
In letzter Sekunde stolperte ich in den hinteren Bereich der Apotheke - direkt in Berts Arme. Genau das hatte mir heute gerade noch gefehlt.
"Wow, Talessa, alles okay bei dir?" Er zog seine Augenbrauen zusammen und drückte mich etwas von sich weg. Seine Hände, die meine Oberarme fest im Griff hatten, hinterließen beinahe ein unangenehmes Brennen auf meiner Haut.
"Klar ist alles okay", winkte ich ab und lächelte schief. Völlig schief. Ich versuchte, mich unauffällig aus seinem Griff zu winden.
Sein Blick wurde noch skeptischer und er beugte sich etwas zu mir herunter. "Du weißt, dass ich immer ein offenes Ohr für dich habe, oder?", sagte er leise.
Ich nickte unwirsch.
Und du weißt, dass ich mit dir nicht darüber reden würde, oder?, schoss es mir durch den Kopf, doch ich biss mir auf die Zunge. Sein Griff war mittlerweile so unangenehm, dass ich ihn am liebsten einfach grob von mir weggeschubst hätte.
Mein Kiefer mahlte. In mir kochten wieder Emotionen hoch und es loderte eine unbändige Wut in mir, derer Ursprung ich nicht ganz definieren konnte.
Meine Augen brachen seinen ziemlich beengenden Blickkontakt ab.

Die Klingel über der Ladentür war meine Rettung aus dieser ziemlich unangenehmen Situation. Fast schon angenehm melodiös flog der Klang zu uns in den Hinterraum.
Schwerfällig kämpfte ich mich aus seinem Griff. "Die Arbeit ruft", kommentierte ich und eilte nach vorn. Berts Blick hätte, so fürchtete ich, bald Löcher in mich gefressen. Ich hätte dem Kunden um den Hals fallen können.

Wehmütig blickte ich demselben hinterher. Ich hoffte still und heimlich, dass er noch etwas vergessen hatte. Nochmal zurückkommen würde. Oder vielleicht gleich der nächste Kunde kam, der mich hinter dem Ladentisch hielt.
Doch jener Kunde, der gerade nur eine Packung Nasenspray für seine Frau wollte, bog unbeschwert links ab. Ein neuer Kunde wollte sich in diesem Moment nicht zu uns verirren. Wäre auch zu schön gewesen.
Meine Finger trommelten auf der Theke, mein Blick war aus der Glastür hinaus auf den Gehweg an der Straße gerichtet. Vielleicht kam ja jetzt ein neuer Kunde. Oder jetzt... oder vielleicht auch erst je -

"Talessa?"
Erschrocken fuhr ich herum. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück, stieß jedoch schnell gegen den Ladentisch. Ich war Bert schutzlos ausgeliefert.
Schutzlos ausgeliefert? Ich kniff meine Augen kurz zusammen. Der Schlafmangel heute Nacht war wohl alles andere als förderlich.
"Mh?"
Bert blieb verwundert an Ort und Stelle stehen, doch für meinen Geschmack stand er noch immer zu nah an mir.
"Ich sehe dich lieber lächeln. Irgendetwas belastet dich doch", begann er und griff somit seine Frage auf, die er mir vor wenigen Minuten erst gestellt hatte.
Bitte lass einen Kunden kommen, bitte lass einen Kunden kommen.
Ich konnte es in meinem Kopf so oft herunterbeten, wie ich wollte, doch die Klingel ertönte nicht. Die Klingel, die mir sonst Magenschmerzen bereitete, wäre nun meine Erlösung. Paradox.

"Talessa?"
Ich zuckte wieder zusammen. "Es ist alles gut, wirklich", wiederholte ich. In meiner Stimme lag ein leichtes Zittern, welches drohte, in meinem ganzen Körper auszubrechen. Was war los mit mir?
"Du siehst schrecklich aus", bemerkte Bert und machte nun doch einen Schritt auf mich zu. Besorgt guckte er mich an, doch für mich wirkte sein Blick klebend, als wäre ich eine Fliegenfalle, die ihn anzog und nie wieder losließ.
Ich schnaubte. "Danke für das Kompliment." Ich rang mir ein Grinsen ab.
"Talessa, so meinte ich das doch nicht. Im Gegenteil, du..."
Das wohl erlösenste Geräusch unterbrach ihn. Jetzt, wo es doch spannend wurde. Im Gegenteil zu was?

Das Gefühl, ich wäre die wandelnde Fliegenfalle, die seinen Blick anzieht, wurde über den ganzen Arbeitstag nicht weniger. Im Gegenteil. Ich fühlte mich beobachtet, verfolgt. Meine Nerven drehten durch, bildeten sich auf alles direkt Szenarien ein, die ich am liebsten direkt vergraben hätte.
Seine Aufmunterungsversuche landeten im Nirgendwo, seine Gesprächsanfänge hingen zwischen uns.
Mit meinen sporadischen Antworten musste er leben - oder eben nicht.

Zum Dienstschluss wollte ich nur noch meine Tasche packen und abhauen. Einfach raus aus den beengenden Wänden, die mir immer näher kamen. Einfach auf direktem Weg nach Hause und dann...
"Warte bitte kurz."
Jemand packte mich am Arm. Bert.
Ich holte tief Luft, suchte nach Beherrschung, die ich nur krümelweise zusammenkratzen konnte.
Mein tiefer Atemzug unterstrich die angespannte Stimmung, die wohl nur ich spürte, denn Bert stand relativ locker mir gegenüber.
"Talessa, ich wollte dich fragen, ob wir uns vielleicht mal nach dem Dienst treffen wollen. Oder an einem freien Tag. Oder wir telefonieren mal." Er lächelte. Das Lächeln wirkte nicht echt. Es wirkte falsch, gierig. Es wirkte- "Reden kann manchmal wirkliche Wunder bewirken."
In mir arbeitete es. Ehe die Worte und deren Bedeutung in mir ankamen, dauerte es. Diese Betonung, dieses Lächeln, dieser Blick, diese... diese...
Wie von einem Automatismus gesteuert, schüttelte ich heftig meinen Kopf. In meinem Blick musste Fassungslosigkeit liegen, wenn ich dazu noch die Kraft aufbringen konnte. Ich wollte hier weg. Die unangenehme Atmosphäre stieg und stieg, drohte, mir die Luft zu nehmen. Ich brauchte definitiv Schlaf.
"Du...", ich suchte nach einem passenden Wort, "... spinnst." Ich wusste nicht wirklich, was ich sagte. Fühlte mich einfach unwohl.
Schlafmangel.
Ich schob das alles auf den Schlafmangel.
Ohne ein weiteres Wort verließ ich die Apotheke, ehe ich nach Hause rannte.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch, macht etwas daraus :)

Scars || ASDSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt