(9) - Ende der Nerven

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Zitternd verließ ich die Wohnung meiner Mutter und lehnte mich erstmal an die Wand an. Wir hatten noch einmal gefrühstückt, sie hatte sich etwas beruhigt. Ich hatte lange auf sie eingeredet, versucht, ihr die Sorgen zu nehmen. Meine Worte hatten sich dabei so leer angefühlt; zu oft hatte ich sie schon gesagt.
Und jetzt merkte ich, wie viel Kraft es mir wieder einmal geraubt hatte. Ich holte tief Luft und zog dann mit zitternder Hand mein Handy hervor.
Fast schon automatisch wählte ich Alex' Nummer.
Er nahm an.
"Alex?", fragte ich sofort mit ziemlich leiser Stimme.
"Ja? Talessa? Was ist?" Er klang sehr ernst.
"Kann ich vorbeikommen?", fragte ich ohne Umschweife. Meine Stimme zitterte.
"Natürlich. Schaffst du das? Soll ich dich abholen? Wo bist du?", wollte er wissen und ich hörte deutliche Besorgnis heraus.
Ich atmete einen Moment durch, musste mich kurz sortieren.
"Ich bin bei der Wohnung meiner Mutter, also nicht weit weg von dir. Ich schaffe das schon."
"Okay." Alex klang nicht sonderlich überzeugt. "Pass auf dich auf."
"Werde ich. Bis dann."

Nach diesen ziemlich kurz angebundenen Worten legte ich auf.
Meine Stimme war nur noch ein Zittern gewesen. Ein Kloß brannte in meinem Hals und erschwerte mir selbst das Atmen. Dieses unangenehme, brennende Gefühl fraß sich hoch und trieb mir Tränen in die Augen.
Für meine Mutter war ich stark. Und jetzt war ich einfach nur noch fertig.
Den Weg zu Alex' Haus lief ich schnellen Schrittes und überholte dabei einige Fußgänger. Ich wusste nicht, ob sie mich wahrnahmen; sich um mich scherten. Ich wollte einfach nur noch weg.
Ich war bemüht darauf, nicht an Ort und Stelle in Tränen auszubrechen. Ich konnte gerade die ganze Welt anschreien. Wollte einfach meine Wut loswerden. Meine Verzweiflung. Kaum vorstellbar, dass ich mich vor gerade mal drei Stunden noch so befreit und glücklich gefühlt hatte.
Im Moment war es fast so, als würde ich unter der Last aller Emotionen, die ich gerade spürte, zusammenbrechen.

Noch bevor ich an Alex' Wohnung klingeln konnte, riss er schon die Tür auf und ich fiel ihm direkt in die Arme.
Er drückte mich fest an sich und strich mir beruhigend über den Rücken. Alex musste nicht nachfragen, um zu wissen, was los war. Und ich hätte auf Nachfrage auch nicht antworten können. Sanft schob er mich ins Wohnzimmer und dann brach es aus mir raus.
"Warum? Warum muss ich das alles aushalten?", rief ich mit brechender Stimme, während mir erste Tränen über die Wangen liefen. Ich stampfte einmal auf den Boden, in einem verzweifelten Versuch, meinen Gefühlen gerecht zu werden.
"Warum muss ich mich um alles kümmern? Um Mailin, um Mama? Warum muss ich mich wie eine Mutter um meine Schwester kümmern? Warum muss ich immer wieder meiner Mutter gut zureden? Warum muss ich sie im Arm halten? Sollte das nicht andersrum sein? Warum muss ich stärker sein, als ich bin? Warum muss ich immer wieder meine Zeit dafür hingeben, dass andere glücklich sind?"
Meine Stimme wurde immer lauter. Alex stand schweigend neben mir und ließ mich einfach reden. Beziehungsweise schreien. Ich schrie schon fast.
"Warum musste mein Vater abhauen? Warum hat er nicht mal eine Erklärung hinterlassen? Warum konnte nicht irgendetwas in meinem Leben anders laufen? Warum muss ich mich dann immer um alles kümmern?"
Meine Stimme überschlug sich, meine Worte wiederholten sich und Tränen liefen über meine Wangen. Ich sank auf den Boden und vergrub den Kopf in meinen Armen.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Alex hatte sich neben mich auf den Boden gekniet und zog mich in seine Arme. Schluchzend lehnte ich meinen Kopf an seine Brust.
"Ich kann nicht mehr, Alex", sagte ich heiser und sah mit verweinten Augen zu ihm auf. Sein Blick war auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne gerichtet und er strich mir durchgängig über den Rücken.
"Der Grund", begann Alex mit rauer Stimme, ohne auf meine letzten Worte einzugehen, "Der Grund, weil du für so viel verantwortlich bist ist der, dass du liebst. Du machst so viel für andere. Das ist bewundernswert."
Seine Worte trafen direkt mein Herz. Und es war gleichzeitig wie Balsam und wie ein Dolch.
Aber ich konnte nicht darauf eingehen.
"Hilfe", flüsterte ich, "Zu viel."
Alex zog mich an den Armen hoch und half mir auf das Sofa. Ich war mittlerweile ruhiger geworden, nur ab und zu schluchzte ich noch. Meine Augen brannten; durch das viele Weinen hatte sich drückender und dröhnender Schmerz in meinem Kopf ausgebreitet.
Ich fühlte mich einfach nur noch hilflos und verzweifelt. Es hatte geholfen, alles einmal rauszuschreien. Aber jetzt fühlte ich mich einfach nur noch leer.

Dankbar nickend nahm ich die Tasse Tee entgegen, die Alex mir reichte und klammerte meine Hände um sie.
Ich sah zu meinem besten Freund, der sich neben mich setzte.
"Meine Mutter hat sich heute wieder Vorwürfe gemacht", begann ich dann zu erzählen, "Sie hat sich wieder dafür verantwortlich gemacht, dass mein Vater abgehauen ist. Dass Mailin nur mit einer Mutter aufwächst. Dass auch ich seit elf Jahren nur noch einen Elternteil habe. Ich weiß langsam nicht mehr, was ich machen soll."
Der letzte Satz drückte pure Verzweiflung aus.
Alex hatte mir die ganze Zeit zugehört. Er strahlte eine enorme Ruhe aus, redete mir zu und versuchte mich etwas aufzubauen.
Ich war ihm so dankbar, aber gerade absolut nicht in der Lage, ihm das zu zeigen.

Nachdem ich noch eine Weile mit Alex geredet hatte, brachte er mich nach Hause. Schweigend saßen wir nebeneinander in seinem Auto. Die leise Musik aus dem Radio war neben dem Motorengeräusch das einzige, was die Stille nicht so dröhnen ließ.
Ich war völlig fertig mit meinen Nerven und wollte eigentlich nur noch schlafen.
Der Tag hatte so schön begonnen. Es gab nichts besseres, als die Zeit einfach mit David zu verbringen. Mich in eine Welt zu fliehen, die abseits von Problemen war. Warum musste meine Mutter ausgerechnet heute wieder einen Rückfall bekommen?

"Du weißt", begann Alex, nachdem er vor meinem Haus gehalten hatte, "dass du mir immer schreiben kannst. Ich bin heute den ganzen Tag zu Hause."
Er sah mir zu, wie ich ausstieg. Ich drehte mich noch einmal kurz um.
"Danke", brachte ich leise raus und schloss die Autotür hinter mir.

Seufzend ließ ich mich auf meine Couch fallen und starrte auf den schwarzen, leeren Bildschirm des Fernsehers. Mein Bild spiegelte sich auf der Mattglasscheibe wider.
Meine Augen waren verquollen, einige Strähnen hatten sich aus meinem Zopf gelöst und meine Haut war ziemlich blass.
Ich ertrug diesen Anblick nicht lang und wandte mich ab, als mein Handy einen Benachrichtigungston von sich gab.

Ich habe Mailin wieder nach Hause gebracht. Sie machte mit der Zeit wieder einen gefassten Eindruck. Deine Mutter gerade auch.

Ich musste mir die Nachricht ein paar Mal durchlesen, um wirklich sicher sein zu können.
Bevor ich jedoch antworten konnte, kam schon eine zweite Nachricht rein.

Wie geht es dir? Soll ich nochmal vorbeikommen?

Nach kurzem Überlegen war mir die Antwort klar. Auch wenn ich eigentlich meine Ruhe wollte, konnte ich ihn doch an meiner Seite gebrauchen.

Würde mich freuen. Und danke.
Für alles.

Zehn Minuten später klingelte er schon an meiner Tür. Und kaum war er da, schlief ich in seinen Armen ein. Einfach aus diesem Alltag flüchten.
Wenn das eine Lösung auf Dauer wäre.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch, macht etwas daraus :)

Scars || ASDSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt