(14) - Elf Jahre

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»Ich freue mich darauf, euch bald wieder in den Armen zu halten.«
Die Buchstaben leuchten mir entgegen. Klar und deutlich.
Ein Tropfen fällt sanft auf den Bildschirm, der das erste Wort verschwimmen lässt.
Ich schließe meine Augen, atme tief durch. Bald. Bald ist es soweit. Bald sehen wir uns alle wieder.
Ein weiterer Tropfen landet auf den grellen Buchstaben, ein dritter, ein vierter. Die Buchstaben verschwimmen, werden undeutlich, sind nicht mehr lesbar.
Im Hintergrund wimmert jemand. Immer lauter dringt es zu mir durch, durchschüttelt schließlich meinen ganzen Körper.
Regen prasselt auf mich ein, nicht so sanft wie meine Tränen, die auf die letzte Nachricht gefallen sind. Hart und erbarmungslos durchweichen sie meine Jacke, mein Oberteil, meine Hose. Vermischen sich mit dem Fluss an Tränen, welcher mir über das Gesicht läuft.
"Warum?"
Immer wieder schreit mich meine Mutter an. "Warum? Warum hat er uns so hängen lassen?"

Schweißgebadet schreckte ich hoch. Mein Atem ging schnell, laut, dröhnte in meinem Kopf.
Ich zitterte am ganzen Körper und fühlte mich betäubt.
Einzelne Bilder schoben sich vor meine Augen, grinsten mich boshaft schief an und weinten lachend.
Das Bild der letzten Nachricht. »Ich freue mich darauf, euch bald wieder in den Armen zu halten.«
Das Bild unseres leeren Hauses, welches wir verkaufen mussten. Die Wohnung mit all den Umzugskartons, in der Mama und Mailin noch immer wohnten.
Ich rieb mir meine Schläfen, doch die Stimmen in meinem Kopf nahmen nicht ab. Sie bearbeiteten mich bis auf meine letzte Kraft.
Ein Blick nach rechts zeigte mir nur die einsame Leere, die in meinem Bett herrschte. Wie gern ich jetzt neben David liegen würde. In seinen Armen, an seiner Brust. Sein Herzschlag, der mich auf so natürliche Weise immer wieder beruhigen konnte.
Doch ich wurde schnell wieder in die eiskalte, grausame Realität geworfen. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem gesamten Körper aus, wenn ich an heute dachte. Noch durfte ich meine eigene Schwäche zeigen, solange meine Mutter diese nicht sah.

Die Nacht war sowieso gelaufen. Mit einer Tasse Tee setzte ich mich auf meinen Balkon und beobachtete den Sonnenaufgang.
Wolken, so leicht und sorglos, die zwischen dem Gemisch aus einem kräftigen rosa und orange ihre Wege zogen. Einfach im Wind nach vorn trieben.
Einmal so frei fühlen. Nicht vom eigenen Alltag erdrückt werden, nicht von den Sorgen der anderen unter Wasser gezogen werden. Gerade an Tagen wie heute konnte ich davon nur träumen.

Ein letzter Blick in meine Tasche. Drei kleine Taschentücherpackungen mussten reichen. Hoffte ich zumindest, denn ich wollte alles dafür geben, dass dieser Tag halbwegs erträglich wurde. Ich wusste nicht, ob ich heute einen Nervenzusammenbruch meiner Mutter durchstehen würde. Nicht nach dieser Nacht, in der auch bei mir alle Erinnerungen so präsent zurückgekommen waren, wie sie es nur einmal im Jahr taten.

Mit einem Kloß im Hals drückte ich den Knopf der Klingel durch. Der Besuch bei meiner Mutter war jedes Mal aufs Neue wie ein Überraschungsei. Der einzige Unterschied bestand wohl nur darin, dass hier die beste Überraschung nicht in jedem siebten, sondern höchstens in jedem zehnten Ei zu finden war.
Außer heute. Dort wusste ich, dass das gelbe Plastikei gänzlich fehlte. Jedes Jahr musste ich auf eigene Faust probieren, diese fehlende Überraschung allein aus meinem Zauberhut zu fischen. Nur fehlte mir dazu auch der Zauberhut.

Die dunklen Augenringe, das eingefallene Gesicht und die zerzausten Haare ließen mich nur entfernt erahnen, wie die Nacht verlaufen war.
"Mensch Mama, mach dich mal ein bisschen frisch. Ich wollte mit dir spazieren gehen."
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, welches missglückter nicht sein konnte.
Mit demselben, unangenehm drückenden Bauchgefühl wie immer, folgte ich ihr in die Wohnung. Alles schien mir heute so leer, kalt und ausdrucklos. Selbst der bronzene Kerzenständer, welcher wie immer auf der kleinen Kommode am Eingang stand, wirkte abweisend und kühl.
Mein Blick wanderte aus dem Fenster. Das Wetter war heute ziemlich unbeständig. Passend zu der angespannten Stimmung zogen hellgraue Wolken am Himmel auf.
Der Farbton dieser wirkte irgendwie verblasst, verwischt. Als waren sie einmal strahlend weiße Wolken, über die sich ein dunkler Schatten legt. Derselbe Schatten, der sich seit elf verdammten Jahren über jeden Tag, jede Woche, jeden Monat legte. Eigentlich schon länger, doch davor hatte dieser Schatten immer wieder kleine Lichtblicke. Waren sie noch so schwach und unscheinbar, konnten wir sie sehen und uns an sie klammern. Bis zu diesem einen Tag.
"Hast du schon gefrühstückt?" Die zitternde Stimme meiner Mutter drang gedämpft in meine Gedanken.
Ich wandte meinen Blick vom Fenster ab und fokussierte einen unbestimmten Punkt an der Wand hinter meiner Mutter. Obwohl sie mittlerweile umgezogen war, wollte ich nicht in ihr Gesicht sehen. Als könnte ich einfach den Schmerz ignorieren, wenn ich nicht hinsah.

Ihre Frage hatte mich verwirrt. Normalerweise hätte ich sie ihr stellen sollen.
"Ja, danke. Ich brauche nichts weiter."
Das war gelogen. Jedes einzelne Wort. Aber schon bei dem Gedanken daran, jetzt etwas zu essen, wurde mir schlecht und kalt.
Meine Mutter nickte. Ich konnte nicht einschätzen, ob sie mir glaubte. Wusste nicht, wie sie die Frage ehrlich beantwortet hätte. Aber mir war klar, dass ich sie auch zu nichts zwingen konnte.
Ich drehte meinen Kopf leicht zu ihr und sah sie nun doch an. Musterte ihre ausdruckslosen Gesichtszüge, ihre kleinen Falten, die sich heute nochmal vertieft zu haben schienen.
Ich holte Luft. "Gehen wir?"
Diese Frage hatte etwas Endgültiges, was ich nicht wirklich definieren konnte. Meine Worte hingen einen Augenblick in der Luft, waren der einzige Laut, den man vernehmen konnte.
Meine Mutter nickte bloß.
Ich kannte keine schlimmere Stimmung als an diesen Tagen. Die sich jedes Jahr zu wiederholen schienen. Wie ein Hamsterrad, welches seinen Besitzer nie ermüden ließ.

Sie schloss die Tür hinter uns ab und ich folgte ihr hinaus ins Freie. Wieder fühlte ich mich unvorbereitet, wieder hatte ich eigentlich keine Ahnung, wie ich die Zeit mit ihr verbringen würde. Jegliche Pläne, die ich mir jedes Mal aufs Neue zusammenkratzte, zerfielen in einen Haufen aus Staub, wenn es darum ging, sie umzusetzen. Ich klammerte mich allein an die Hoffnung, dass ihr die frische Luft gut tun würde und es ihr dadurch besser ginge.
Etwas hilflos hakte ich mich bei ihr unter und steuerte mit ihr in einem unangenehm tiefen Schweigen auf den Wald zu.
Durch die Jahre war ich mittlerweile einen halben Kopf größer als meine Mutter. Sie wirkte neben meinem aufrechten Gang fast schon schwerfällig und gebeugt. Gebeugt von jahrelangen Plagen und Sorgen. Jahrelanger Last ohne Aussicht auf Änderung.

Auf dem Weg kam uns ein Ehepaar entgegen, um die siebzig Jahre alt. Ich musterte sie. Sie wirkten glücklich, selig. Hielten ihre Hände verschränkt. Lächelten. Aber sprachen nicht. Als ob zwischen ihnen schon alles gesagt wäre.
Wäre die Situation eine andere, würde ich schon fühlen, wie mich das Glück anderer im Herzen erfüllte, obwohl ich sie nicht kannte. Nicht ein Wort mit ihnen gesprochen hatte.
Aber ein Blick zur Seite auf das blasse, verhärtete Gesicht meiner Mutter und den suchenden Blick, mit dem sie dem Paar nachsah, ließ alles Glückliche in mir verpuffen.
Ich wusste, woran sie dachte.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch, macht etwas daraus :)

Scars || ASDSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt