DECISIONS
Über die Entscheidung
Das Richtige zu tun32 Jahre nach der Wendung
HEATHER
Laut tönten die Geräusche des wegfahrenden Zuges durch den Tunnel. Einige Sekunden stand ich da, gönnte mir die Pause, die ich seit mehreren Stunden nicht mehr gehabt hatte und atmte die stickige Luft ein, die hier unten herrschte. Obwohl es in der gesamten Stadt kaum unangenehme Gerüche gab, schien es hier unten wohl kaum zu verhindern gewesen sein.
„Schnupperst du die Bahnhofsluft?“
Ich zuckte zusammen und riss die Augen auf, die ich nur wenige Sekunden zuvor geschlossen hatte. Ich brauchte einen Augenblick, um zu sehen, wer es war, der mich angesprochen hatte. Hatte er mich erkannt? Bitte nicht. Ich wollte einfach nur kurz alleine sein und gleich in mein Bett fallen und die fünf Stunden schlafen, die mir blieben. Denn es war bereits neun Uhr morgens und um vierzehn Uhr musste ich wieder wach sein. Um halb drei wäre die nächste Besprechung. Die endgültige Besprechung. Die, die meine Entscheidung nicht mehr änderbar machen würde.
Ich richtete meine Gedanken wieder auf den Mann vor mir. Er erschien mir, als wäre er älter als ich, allerdings war es nicht das Erste, was mir auffiel. Die dunklen Augen, die beinahe einem Schwarz glichen, ließen mich kurzzeitig erstarren.
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken“, redete er weiter und fuhr sich durch die schwarzen Haare. Auf seinem weißen Tshirt waren kaum zu sehende Flecken und durch seine linke Augenbraue zog sich eine Narbe. Ich sagte nichts, da ich nicht so ganz wusste, was. Hatte er erkannt, wer ich war? Was wollte er von mir?
„Kannst du mir sagen, wie ich zu Gebäude neun komme?“
Ich nickte eilig und atmete erleichtert aus, weil es anscheinend nichts anderes gab, was er wissen wollte. „Natürlich. Es liegt auf meinem Weg. Ich bringe dich kurz vorbei.“
Der junge Mann nickte, Strich sich sein weißes Tshirt zurecht und folgte mir, als ich mich auf den Weg zu den Treppen machte. Diese würden uns noch nicht über die Erde führen, dafür aber in die Gänge, durch die alle größeren Gebäude verbunden waren. Gebäude neun zum Beispiel, in dem um halb drei meine Besprechung stattfinden würde. Vermutlich kam er aus einer der anderen Städte und vertrat eine von ihnen, weshalb er ebenfalls dorthin wollte. Auch wenn bis zu der Besprechung noch fünf Stunden Zeit waren, ließ ich mir diese Erklärung nicht nehmen.
„Vielen Dank“, sagte er schließlich, als ich mit ihm vor dem Tunnel stehen blieb, der zu dem Eingang von Gebäude neun führte.
Ich nickte knapp. „Gerne“, sagte ich dann und setzte wieder die kühle Maske auf. Ich hatte meine Pflicht erfüllt und ihm hierher geholfen. Jetzt konnte mich kaum mehr etwas davon abhalten, in mein Bett zu fallen. Allerdings war da nun auch nichts mehr, was mich ablenken konnte. Auf der Zufahrt hatte ich gearbeitet, Unterlagen auf dem Tablet sortiert und Berichte über die Besprechung geschrieben. Nun jedoch, als ich wusste, dass gleich wenn ich in meinem Bett liegen und versuchen würde, zu schlafen, nichts mehr die Gedanken davon abhalten konnte, auf mich einzuströmen.
Ich schüttelte den Kopf, wollte von der Erinnerung wegkommen, was ich getan hatte. Es war das Richtige gewesen. Ich ging noch einige Schritte weiter, bis ich schließlich bei dem Eingang zu dem Gebäude ankam. Dort legte ich meinen Ringfinger auf den Scanner und wartete, bis meine Daten auf dem kleinen Bildschirm erschienen.
Heather Alistair
Geboren: 22. Oktober, 15 Jahre nach der Wendung
Haarfarbe: Braun
Augenfarbe: Grün
Nummer: 4620272736
Kurz blieb mein Blick an dem Bildschirm hängen. Unbewusst zupfte ich an dem Ärmel meiner weißen Jacke, sah kurz zu der Nummer, die schwarz auf meinen Unterarm tätowiert war. Dann schoben sich die gläsernen Türen auf und ich betrat die große Eingangshalle.An der Empfangstheke stand Dora und tippte auf ihrem Tablett herum. Als sie bemerkte, dass ich es war, die den Raum betreten hatte, sah sie auf und lächelte mich an. Sie strich sich eine Strähne ihrer langen grauen Haare hinters Ohr und als sie die Mundwinkel nach oben zog, wurden ihre Lachfalten noch ein wenig auffälliger. Sie war eine der wenigen in diesem System, die Gefühle zeigte. Oder zumindest Gefühle, die soetwas wie Wärme und Zuneigung waren. Thalia hatte es getan. Und nun war sie weg.
„Guten Morgen, Heather“, sagte sie und legte den Kopf leicht schräg.
„Guten Morgen“, gab ich zurück und blieb stehen.
„Wie geht es dir?“
Ich zuckte mit den Schultern, dann brachte ich die Worte „Ich bin ein bisschen müde“, hervor.
„Wie war die Besprechung?“
Kurz gelitten meine Gedanken dorthin zurück. Eigentlich wollte ich nicht daran denken. Nicht an das, was ich getan hatte. Es war das Richtige gewesen. Ich schluckte, dann sah ich Dora wieder an. „Normal“, sagte ich schließlich. „Ich bin wirklich müde. Bis später, Dora.“ Ehe sie etwas erwidern konnte, hatte ich mich umgedreht und ging zu den Aufzügen.
„Es ist in Ordnung“, meinte ich sie murmeln hören. Vermutlich meinte sie nicht einmal mich. Dora war manchmal ein wenig verwirrend. Trotzdem war sie mir ans Herz gewachsen. Vielleicht, weil sie nie ein schlechtes Wort über meine Schwester verloren hatte, trotz dem, was sie getan hatte.
Der Aufzug brachte mich in den dreizehnten Stock, wo sich die Türen wieder öffneten. Ich ging den Gang hinunter, bis ich schließlich bei meinem Zimmer ankam. Kurz blieb mein Blick an der Zimmertür hängen, die sich neben meiner befand. Das ehemalige Zimmer meiner Schwester. Längst wohnte jemand anderes darin.
Gedankenverloren scannte ich auch hier meinen Fingerabdruck, dann betrat ich mein Zimmer. Nach wie vor war es karg möbliert. Mein Bett stand noch immer dort, wo es vor fünf Jahren schon gestanden hatte. Durch die eine Wand, welche vollständig verglast war, konnte ich auf die Stadt unter mir blicken. Das Licht, das von draußen in den Raum fiel, machte die Lampe an der Decke überflüssig.
Ich zog mich eilig um, legte die weiße Tasche, die ich bereits den ganzen Tag mit mir herumschleppte, auf den Stuhl am Fußende meines Bettes und legte mich schließlich hin. Meine Augen fielen zu und obwohl ich viel zu lange nicht mehr geschlafen hatte, wollten die Gedanken, die durch meinen Kopf schwirrten, nicht leiser werden.
Ich dachte an den großen Raum mit hoher Decke, in dem ich an diesem Morgen gesessen hatte. Daran, wie gesagt wurde, dass die Säuberung um zwei Jahre nach vorne verlegt werden sollte, da es zu viele Abtrünnige, Leute, die das System verraten hatten, gab. Darunter meine Schwester.
Eine Zeit lang war ich innerlich wie erstarrt gewesen. Äußerlich hatte ich mir, so wie immer, nichts anmerken lassen. Schließlich sollte jeder eine Stimme für oder gegen die Verlegung der Säuberung um zwei Jahre nach vorne abgeben. Dadurch, dass ich als Vertreterin für Sektion 1 da war, war meine Stimme die Letzte. Und wie ich merkte auch die Entscheidende. Ich hatte daran gedacht, dass meine Mutter, für die ich an diesem Tag die Vertreterin spielen durfte, getan hätte. Sie hätte dafür gestimmt. Also habe ich meine Stimme abgeben. Und spätestens in einem Monat, am Tag der Säuberung, wäre meine Schwester tot.
[Ich bin seit halb acht wach und habe dieses Kapitel geschrieben :D Aktuell mag ich die Story sehr gerne :) Wie gefällt es dir bisher? Ich frühstücken jetzt erstmal und dann schreibe ich an Kapitel zwei. Ich werde übrigens die nächsten Kapitel in Teile aufteilen müssen, weil sie sonst zu lang werden (Beispiel Kapitel 3: Ist am Ende vermutlich ca. 8k lang und wird deswegen in 3 Teile aufteilt= Kapitel 3.1, Kapitel 3.2, Kapitel 3.3
Ich wünsche euch noch einen schönen Tag :) ]
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Stadt aus Glas- Das Erwachen der Sterne (Band 1)
Science FictionBei einem Brand, ausgelöst von den Rebellen, wird die siebzehn jährige Heather von eben diesen gefangen genommen. Nach und nach werden ihr die Schattenseiten des Systems der Gläsernen, in dem sie aufgewachsen ist bewusst und sie beginnt, an ihrer Ve...