Das Monster lag nicht mehr auf der Seite, es war nun vollständig aufgerichtet und ragte hoch in den Himmel Cyrills. An der modifizierten Nurtas V Trägerrakete waren zusätzlich vier Feststoff - Schubraketen montiert. Im Tank der Hauptrakete lagerten, getrennt voneinander, flüssiger Sauerstoff sowie Wasserstoff und bildeten jenes hochexplosive Gemisch, das dem SRT den nötigen Schub zum Verlassen der Atmosphäre Cyrills lieferte. Der Narub war aufrecht an der Trägerrakete befestigt. Die gewaltige Kraft dieses Ungetüms konnte bis zu 30 Ektos Last in die Umlaufbahnbefördern oder einen zu allem bereiten Astronomen mit vier linientreuen und bewaffneten Soldaten sowie zwei Technikern und drei Piloten. Swakesh hatte keine Chance auf die Auswahl der Soldaten Einfluss zu nehmen und musste sich mit den gepanzerten Anhängern des Oberhaupts abfinden, in ihren albernen roten Uniformen mit schwarzen Protektoren und Panzerungsteilen nebst einem grauen Helm an dem eine schwarzer Gesichtsschutz aus verstärktem Kunststoffglas befestigt war. Aus Swakeshs Sicht waren dies keine Soldaten sondern gesichtslose Lakaien, die sich hinter ihren Masken versteckten, um sich der Verantwortung für ihre Taten entziehen zu können. Die neue Regierung war sich wohl darüber im Klaren, dass sie in den Kreisen der Wissenschaft weniger Anhänger hatte als anfänglich erhofft. Die Piloten konnte Swakesh nur schwer einschätzen, sie waren bei allen Besprechungen anwesend, ließen sich aber nur selten zu offenen Meinungsäußeren hinreißen. Swakesh hatte nur zwei Trümpfe in der Hand, die Ingenieure. Er wusste, dass die Auswahl an geeignetem Personal, das noch dazu Willens war eine solch selbstmörderische Mission auf sich zu nehmen äußerst begrenzt war. Aus diesem Grund hatte er sich frühzeitig mit Experten für Reaktorsysteme getroffen, die auf Kriegsschiffen und Unterseebooten eingesetzt wurden, denn die theoretische Möglichkeit, dass das Objekt über einen Reaktor an Bord verfügte war hoch. Anders ließ sich die Energie für längere Reise kaum bereitstellen. Zudem befand sich für diese Mission ein tragbarer Radioisotopengenerator im Laderaum, mit dessen Hilfe man Energie bereitstellen wollte, um einen etwaigen inaktiven Reaktor wieder hochzufahren. Vielleicht könnte man auch irgendwie das Heizelement des Generators nutzen? Es waren nur theoretische Spekulationen, sie hatten ihre Koffer auf Verdacht gepackt, ohne zu wissen was sie erwarten würde. Beide Experten waren entschiedene Gegner der neuen Regierung und hatten sich bei einigen konspirativen Treffen mit Swakesh darauf geeinigt, dass dem Regime keine außercyrillische Hochtechnologie in die Hände fallen dürfe. Flüssiger Sauer- und Wasserstoff, Soldaten des Regimes und Regimegegner im Cockpit waren eine hochexplosive Mischung nach Innen und Außen.
Eine wirkliche Meisterleistung cyrillischer Ingenieurskunst stellte das Andockmodul dar. Die Schleuse selbst war als langes ausfahrbares Rohr konstruiert an dessen Ende kreisrunde, extrem feine Sägezähne aus gehärtetem Damantium angebracht waren. Auf einer Länge von anderthalb Quods konnte der Vorderteil der Schleuse mit extrem hohen Drehzahlen rotieren und sich in Form eines Hohlbohrers in nahezu jedes bekannte und hoffentlich auch unbekannte Metall fressen. Hinter dem Bohrer befanden sich an der Außenseite des Schleusenrohrs kreisrund angeordnete Behälter mit einer speziellen Dichtmasse, die bei Freisetzung den äußeren Bereich der Bohrung luftdicht abschließen konnte. Am erstaunlichsten war allerdings der Umstand, dass die Bereitstellung des SRT Systems und die Konstruktion des AGAM (Aggressives Andock Modul) tatsächlich in etwas mehr als 100 Zyklen realisiert wurden. Die Radikalen waren seit 50 Zyklen an der Macht, um das Projekt voranzutreiben hatten sie unbegrenzte Mittel und personelle Ressourcen bereitgestellt, getrieben von der Gier nach neuer Technologie, die ihnen einen Vorteil verschaffen sollte.
Swakesh saß festgeschnallt auf einem der drei Plätze hinter den Piloten, direkt neben den Technikern. Genau genommen lag er vielmehr auf dem Rücken, da das SRT aufgerichtet war. Weil er seinen Platz nicht verlassen und ebenso wenig den Druckanzug ablegen konnte trug er, wie die übrigen Besatzungsmitglieder, extrem saugfähige Windeln. Zudem verschaffte es ihm eine tiefe Genugtuung, zu wissen, dass die vier Elitesoldaten hinter ihm ebenfalls frisch gewickelt auf dem Rücken lagen. Es lenkte ihn auch davon ab sich die verschiedenen Abbruchszenarien auszumalen, die während des Starts eintreten konnten. Diese reichten vom Abspringen mit Fallschirmen bis zum Rückflug oder der Landung auf irgendeinem Flughafen und hatten nur eines gemeinsam, die verschwindend geringen Überlebenschancen der Besatzung.
Enorme starke Vibrationen rissen Swakesh aus seinen Gedanken, er hatte tatsächlich die Ansagen der Piloten und Startkontrolle überhört. Zündung! Soeben wurden die Haupttriebwerke der Rakete hochgefahren. Das Vibrieren ging in ein Schwanken über, Swakesh glaubte zu spüren, dass sich das Monster zu einer Seite neigte und geriet in Panik. Tatsächlich schwankte der gesamte SRT Aufbau mit der Zündung der Haupttriebwerke ein wenig, doch als er sich wieder mittig ausgerichtet hatte, zündeten die Feststoffraketen. Die ungeheure Schubkraft presste Swakesh in den Sitz, das Atmen fiel ihm schwer. Jene zwei Pareks, in denen die Zusatzraketen 500 Ektos festen Treibstoff verbrannten, lasteten wie eine Ewigkeit auf Swakeshs Brust. Erst als sich die Raketen von der Nurtas gelöst hatten und nur noch das Haupttriebwerk arbeitete, wurde die Schubkraft erträglich. Nach weiteren zehn Pareks löste sich der Narub von der Trägerrakete und die Schwerelosigkeit umfing die Besatzung. Ein schier unbeschreibliches Gefühl nach den Strapazen des Starts, mit einem Mal war nicht nur das Gewicht von Swakeshs Brust gewichen, vielmehr war im sein Gewicht in Gänze abhanden gekommen. Sein Körper verkraftete diesen Wechsel weniger gut und ihm wurde übel. Ein trockenes Würgen erfüllte das Innere des Cockpits, in weiser Voraussicht hatte Swakesh die Reise nüchtern angetreten. Nach der Abkopplung zündete das Rendezvoustriebwerk, ein kleineres Triebwerk, das nur dem Zweck diente SWAK74 anzusteuern und den Kurs anzugleichen.
Niemand sprach ein Wort, alle waren entweder mit ihren Missionsaufgaben beschäftigt oder vom Anblick Cyrills aus dem All überwältigt. Wie ein riesiger glänzender Halbmond drehte Cyrill majestätisch seine Kreise um den weißen Zwergstern im Zentrum ihres Sonnensystems. Nach einer weiteren Kurskorrektur war Cyrill aus dem Sichtbereich des winzigen Seitenfensters verschwunden. Vor ihnen breitete sich die Dunkelheit aus, fast kam es Swakesh so vor als lauerte darin das fremde Schiff. Die Flugzeit zum Rendezvous mit SWAK74 dauerte etwa einen viertel Zyklus. Der Missionsleiter hatte mit Hilfe mehrerer Tabletten seine Übelkeit in den Griff bekommen und studierte die Checkliste für das Andockmanöver. Beide Techniker überprüften ständig den Status der Radionuklidbatterie und die Piloten waren mit den Kursberechnungen des Bordcomputers beschäftigt. Nur die vier Soldaten saßen stumm auf ihren Sitzen, warteten ab und musterten die Besatzung. Zudem hatten sie darauf bestanden in ihren gepanzerten Kampfanzügen zu fliegen und verzichteten darauf Druckanzüge anzulegen, wie die übrigen Besatzungsmitglieder. In ihrer Welt hatte die Kampfbereitschaft absolute Priorität, Sicherheitsbedenken galten als ein Zeichen von Schwäche. Stumm und still oder mit Arbeit beschäftigt verbrachte das zehnköpfige Team die Reise zur Areion.
„Wir nähern uns dem Rendezvouskoordinaten, wenn wir in 15 Pareks die Suchscheinwerfer einschalten, müssten wir SWAK74 ausmachen können.“ Aufregung schwang in der Stimme des Piloten mit.
Dann sahen sie das Schiff, niemand sprach, ihnen stockte der Atem. Es war riesig und in einem dunklen Grauton gehalten. Rumpf und Frontpartie waren stromlinienförmig, der zylindrische Schiffskörper schien endlos lang zu sein. Genau in der Mitte befand sich ein halbrunder Aufbau, eine Art Turm, möglicherweise das Steuerzentrum. Sie schalteten für einen kurzen Augenblick den Scheinwerfer ab, kein Licht, keine Positionsleuchte war am fremden Schiff zu sehen – nirgends. Keine Antworten auf die Funksprüche oder die vorbereiteten Grußbotschaften.
Einer der Piloten wandte sich an Swakesh. „Nun III Swakesh 7435, es ist ihre Entdeckung! Wo sollen wir anklopfen?“
Es war mehr ein Gefühl, nicht mal eine konkrete Ahnung aber Swakesh musste eine gewisse Entschlossenheit zumindest vortäuschen. „Gehen sie auf einen Parallelkurs und bereiten sie das Andocken an der Seite im ersten Viertel des vorderen Bereichs vor.“
Er hätte genauso gut mit geschlossenen Augen auf irgendeine Stelle zeigen können, es hätte keinen Unterschied gemacht.
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Areion - Das letzte Echo
Ciencia FicciónWofür opfern wir unsere Freiheit? Wer verteidigt eine Gesellschaft gegen ein skrupelloses Regime? Auf dem weit entfernten Planeten Cyrill erleben die Bewohner eine Krise und tiefgreifende gesellschaftliche Umbrüche, bis eine Entdeckung alles verän...