Sie hatte diesen Auftritt wieder und wieder einstudiert. Jede kleinste Bewegung sollte sitzen, präzise und genau, so gut es ihr eben möglich war. Sie hatte sich nie für eine überragende Rednerin gehalten, auch wenn ihre Anhänger sie für eine hielten - sie wusste, sie war es nicht. Eigentlich war sie ein Niemand, ohne Ausbildung und Perspektive, eine verlorene Seele eines längst vergangenen Krieges. Sie hatte keinen sonderlich scharfen Intellekt, all ihre Reden bestanden aus Versatzstücken und fremden Ideen, die sie mit der Akribie einer Besessenen zusammengetragen hatte. Sie besaß keine besonders gute Allgemeinbildung und oft fiel es ihr schwer Zusammenhänge zu verstehen. Aber sie verstand ihre Anhänger. Sie hassten die neuen Freiheiten, sie waren Untertanen und bereit jedem hinterherzulaufen, der ihnen eine Richtung wies. Sie wollten hassen und sie würde ihnen sagen was sie hassen sollten. Es erschein ihr unwirklich, geradezu ironisch, dass sie nun plötzlich ihr zujubelten und sie verehrten, eine ehemals mittellose Tagelöhnerin. Aber sobald die Freiheit im Angesicht einer Krise unbequem wurde, opferten die Individuen sie zugunsten einer trügerischen Sicherheit, egal wie stumpf und durchschaubar die gesammelten Ideen dahinter auch waren. Soviel hatte sie verstanden und sie wusste was sie hören wollten, wem sie die Schuld geben wollten und wem sie die Schuld geben konnte.
Ingraph sah die Versammlung auf der Allee bereits von Weitem, ein tiefer Seufzer entfuhr ihm, denn eigentlich wollte er nur seinem guten Vorsatz folgen und sich mehr bewegen. Der Arbeitsweg via Untergrundbahn wäre sowohl kürzer, als auch komfortabler gewesen. Und nun das – ein Aufmarsch der Radikalen, der die gesamte Allee blockierte. Um zur Arbeit zu gelangen würde er sich wohl durch die hinteren Reihen wühlen müssen. Während er sich also weiter der Ansammlung näherte betrachtete er die Zuschauer dieser Veranstaltung. Sie waren anders als erwartet, nicht die Armen und Hoffnungslosen standen da, vielmehr handelte es sich um einen Querschnitt der Gesellschaft. Den Großteil bildeten die einfachen Arbeiter, man erkannte sie an der schlichten Kleidung, die nie so richtig passgenau die graue Haut bedeckte. Ingraph sah aber auch Studenten seiner Forschungseinrichtung, ja sogar Kollegen die er nur vom Sehen her kannte. Einige der Anwesenden sahen so aus als würden sie in gehobenen Positionen arbeiten, Rechtsanwälte oder Mediziner vielleicht. Natürlich gab es auch viele Alte unter den Zuhörern, die sichtlich ihrem geliebten Herrscher nachtrauerten. Als er sich gerade durch das erste Drittel der hinteren Reihen gekämpft hatte betrat eine zierliche Frau mittleren Alters die Bühne. Sie war hager, ihr Gesicht wirkte selbst dann kantig, wenn sie sich um ein einstudiertes Lächeln bemühte. Ihr schwarzes Haar hatte sie zu einem Dutt gebunden, vorn war es nach links gescheitelt. Das Rednerpult hatte separate Stufen und bot eine herausgehobene Position in der Mitte der Bühne. Einige ihrer Anhänger hatten offenbar vor die Rede zu filmen und suchten dafür eine passende Perspektive, so kauerten sie in der Nähe des Pults, um ihre Anführerin in einem herausgehobenen Blickwinkel darzustellen. Die Frau ging langsam auf das Rednerpult zu und nahm jede der Stufen mit Bedacht. Ingraph konnte das Spektaktel nur von den hinteren Reihen aus verfolgen, ihm kam es so vor als würde sie mit diesem langsamen Schreiten versuchen die eigene Nervosität zu überspielen. Ihre Anhänger hatten schon mit dem Jubeln begonnen, noch bevor diese kleine sehnige Frau ihren Aufstieg zum Mikrofon beendet hatte. Sie stützte sich mit beiden Armen auf dem Pult ab und begann ihre Rede mit den Worten: „Welch glückliche Fügung des Schicksals ist es, dass wir alle zusammengefunden haben.“
Im weiteren Verlauf der Rede sprach sie laut, ihre Worte dröhnten durch die Lautsprecher und bei Passagen in den sie von weiteren schicksalhaften Fügungen sprach schrie sie so laut, dass sich ihre Stimme überschlug und sie beinahe zu krächzen begann. Bei ihren Worten packte Ingraph das blanke Entsetzen, es war der pure Hass auf Andersdenkende, auf die Freiheit und alles was nicht in ihr kleines engstirniges Weltbild zu passen schien. Besonders aber hatte sie es auf die Fahlen abgesehen, sie dienten ihr als Sündenbock für alle gesellschaftlichen Probleme, ja sogar von einer Verschwörung der Fahlen, die ganz Cyrill betraf war die Rede. Man müsse sie ausradieren, es wäre an der Zeit sich zu erheben und ein reinigendes Feuer zu entzünden. Ingraph stockte der Atem, ihm war als nähme ihm diese dumpfe Aggression die Luft zum atmen, er schob fanatisch jubelnde graue Leiber beiseite, die ihn im Taumel ihres aufkeimenden Hasses nicht einmal bemerkten. Endlich hatte er es geschafft, sowie er den letzten Radikalen hinter sich gelassen hatte fing er an zu laufen, hinter ihm hämmerte die Frau ihre hysterischen Tiraden ins Mikrofon. Ingraph blinzelte nervös mit den Nickhäuten, Schweiß rann ihm von seiner Stirn in die Augen und ein Stechen in seiner Seite zwang ihn vom Laufen zum Gehen zu wechseln. Er keuchte, blickte sich angewidert um und dachte daran, dass er in Zeiten lebte, in denen gute Vorsätze nicht immer belohnt werden.
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Areion - Das letzte Echo
Ficțiune științifico-fantasticăWofür opfern wir unsere Freiheit? Wer verteidigt eine Gesellschaft gegen ein skrupelloses Regime? Auf dem weit entfernten Planeten Cyrill erleben die Bewohner eine Krise und tiefgreifende gesellschaftliche Umbrüche, bis eine Entdeckung alles verän...