„Obduktionsbericht Nummer 42. Das Opfer ist männlich, grau und übergewichtig. Als mögliche Todesursache kommen mehrere Schnitt- und Stichverletzungen im Bereich des Oberkörpers in Frage. Aufgrund der Lage der Einstichstellen ist von einem intraabdominellen Blutverlust auszugehen, der zu einem Kreislaufstillstand und – Aufnahmeunterbrechung." Der Pathologe schaltete entnervt das Aufnahmegerät ab und wandte sich dem ungebetenen Besucher an der Tür zu. „Sie haben hier keinen Zutritt! Das ist die Pathologie, wen auch immer sie suchen, hier ist er nicht!"
Swakesh war nicht aufzuhalten, er war blass, zitterte und ging auf den Pathologen zu. „Ich, ... ich möchte ihn doch nur sehen, meinen Freund. Gewissheit, verstehen Sie? Die haben mir oben gesagt er wäre verstorben, wissen Sie? Ich, ich... glaube das aber nicht, ... erst wenn ich ihn gesehen habe. Gewissheit, verstehen Sie?"
Als der Pathologe Swakesh da so stehen sah, sich ständig wiederholend, fasste er sich ein Herz und versuchte den aufgebrachten Besucher zunächst einmal zu beruhigen. „Hören Sie, vielleicht handelt es sich nur um einen Irrtum. Wie heißt, denn ihr Freund?" Die Stimme des Pathologen klang nun freundlicher, fast väterlich.
„Ingraph 4705, ... ähm, ich meine II Ingraph 4705, er war mein Kollege am Institut." Swakesh sah ihn mit aufgerissenen Augen an, seine Nickhäute zuckten nervös, kalter Schweiß lief ihm über die Stirn.
Der Pathologe überlegte eine Weile und dachte darüber nach, was er dem ungebetenen Gast antworten sollte. „ Wissen Sie, ich mag keine Messer. Das Messer ist von seinem Wesen her eine heimtückische Waffe. Wenn das Opfer mit einem Messer angegriffen wird, sieht es die Waffe meist erst wenn es zu spät ist. Im Gegensatz zu einer Handfeuerwaffe bleibt das Messer oft bis zum letzten Augenblick im Verborgenen, bis der Täter zusticht. Und wenn sie einen Täter haben, der das Messer führen kann, fügt er dem Opfer in unglaublicher Geschwindigkeit so viele Schnitte zu, bis es verblutet oder er zu einem tödlichen Stoß ansetzt."
„Ja, ich, ich ... verstehe, aber ich suche meinen Kollegen und guten Freund II Ingraph 4705, die haben mir oben gesagt, dass ..." In diesem Augenblick machte der Pathologe einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf den Seziertisch frei. Da sah Swakesh seinen Freund liegen und verstummte. Behutsam legte der Arzt Swakesh die Hand auf den Rücken und führte ihn zum Tisch.
„Eigentlich wollte ich ihnen den Anblick ersparen." Er sprach nun leise, mit gedämpfter Stimme, beinahe so als wolle er Ingraphs Totenruhe nicht stören. „Aber Sie wollten Gewissheit. Vielleicht ist es nur ein dummer Zufall, dass sie hier hereingeschneit sind als ich mit der Obduktion ihres Freundes beginnen wollte, vielleicht ist es aber auch Schicksal und sie haben diese Gelegenheit verdient um sich zu verabschieden."
Swakesh stand nun regungslos vor seinem toten Freund, der auf dem metallenen Tisch vor ihm lag. Er konnte ihn kaum erkennen, Tränen rannen ihm über das Gesicht und trübten seinen Blick. Ingraph wirkte klein und farblos, die Selle war dem Körper entwichen und alles was zurückblieb war diese zerbrechliche, leblose Hülle. Erst als er sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte, bemerkte er die unzähligen Stich und Schnittverletzungen, von denen Ingraphs rundlicher Oberkörper übersät war.
„Hören Sie, wenn sie nun schon einmal hier sind." Der Pathologe klang nun sachlicher und nahm ein Klemmbrett mit einigen Zetteln zur Hand. „Auf dem Protokoll steht lediglich, dass ihr Freund unweit eines Wahllokals in den unterirdischen Gärten bewusstlos aufgefunden wurde, bevor man ihn in die Klinik brachte. Bisher scheint es auch noch keine Zeugenaussagen zu geben, die bei den Ordnungskräften eingegangen sind. Vielleicht können sie etwas Licht ins Dunkel bringen. Auf dem Protokoll steht der zuständige Beamte für diesen Fall, ich werde ihn anrufen und darum bitten sie von der Klinik abzuholen. Gönnen sie sich bis dahin etwas Ruhe und warten sie in der Kantine, vielleicht würde ihnen ein frischer Akok Tee gut tun?"
Swakesh stand noch immer stumm vor dem Leichnam seines Freundes, die Worte des Pathologen hörte er nur aus weiter Entfernung. Er fühlte sich wie betäubt, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Nach fünf weiteren Pareks drehte er sich um und verließ wortlos den Raum. Der Pathologe schaltete das Aufnahmegerät ein und diktierte den Obuktionsbericht, als Swakesh in den Fahrstuhl stieg, hallte das Geräusch einer Knochensäge durch den Flur.
Die Kantine war gänzlich in weiß gehalten und wirkte steril. Der Zyklus neigte sich dem Ende zu und es waren kaum noch Besucher im Krankenhaus, Swakesh hatte die Kantine für sich allein. Auf dem Tisch standen einige süße Kristalle für Tee, Servietten und eine Vase. Er saß wortlos am Tisch und starrte ins Leere.
Als der leitende Ermittler die Kantine betrat musste er sich nicht lange umsehen. Er ging nicht direkt zu Swakesh, sondern nahm einen Umweg über den Bestellschalter und orderte zwei Tassen Akok Tee, offensichtlich hatte der Pathologe ihn über den Zustand seines Gesprächspartners gut unterrichtet.
„Dieser Zyklus will einfach nicht vorübergehen!" Swakesh zeigte keinerlei Reaktion und starrte noch immer apathisch auf den Tisch. Der Beamte schob eine der Tassen über den Tisch und fuhr fort. „Ich wünschte ihr Freund wäre ein bedauerlicher Einzelfall, aber glauben sie mir am heutigen Wahlzyklus ist die Hölle los. Die Bevölkerung ist unruhig, die Stimmung ist aufgeheizt und die Radikalen haben Schlägertrupps in der Nähe fast aller Wahllokale postiert. An der Oberfläche gab es Straßenschlachten zwischen den Radikalen und ihren Gegnern. Leute die sich offen gegen die radikale Propaganda stellen, werden von den Schlägertrupps angegriffen. Es spielen sich Szenen ab, die an einen Bürgerkrieg erinnern und das an einem Wahlzyklus!"
„Es ist alles meine Schuld!" Swakesh hob nicht den Kopf.
„Wie meinen sie das? Ihre Schuld? Haben Sie etwas mit dem Tod ihres Freundes zu tun?" Der Beamte wurde hellhörig.
„Ich habe mit all dem was sie gerade geschildert haben etwas zu tun. Dieses verfluchte Objekt, ich habe es entdeckt RB 0820702, erstmalig gesichtet in Gitter 473."
„Sie meinen SWAK74?" Erstaunen machte sich auf dem Gesicht des Ermittlers breit.
„Ich bin Astronom III Swakesh 7435, ich habe den Himmelskörper entdeckt und der Tote war ..." Swakesh stockte „mein Kollege und guter Freund."
„Sie haben dieses Ding entdeckt das alle in Panik versetzt?" Plötzlich wurde ihm klar wie deplatziert seine Wortwahl war. „Entschuldigen Sie, es tut mir leid! Sie sind Astronom, sie können ganz sicher nichts für die Vorgänge auf den Straßen. Kommen wir zu ihrem Freund, II Ingraph 4705. Können sie mir sagen, was er am heutigen Tag vor hatte?"
Swakesh nahm einen Schluck Tee, er schmeckte bitter. „Ich habe heute, am frühen Zyklus mit ihm telefoniert, es ging um die Wahlen. Er wollte unbedingt hin, um den Radikalen etwas entgegenzusetzen. Ich habe ihn vor den radikalen Schlägern gewarnt, die schon in den letzten sieben Zyklen vor der Wahl für Unruhe gesorgt hatten ..." Swakesh schluckte, es fiel ihm sichtlich schwer die Fassung zu bewahren. „Ich fand es sei zu gefährlich heute nach draußen zu gehen, die Umfragen hatten einen uneinholbaren Vorsprung der Radikalen prognostiziert und ich habe ihm gesagt es würde nichts bringen zur Wahl zu gehen. Er hat geantwortet, es ginge ihm darum ein Zeichen zu setzen. Auf dem Rückweg von der Wahl wollte er bei mir vorbeikommen, wir hatten noch einiges an Arbeit vor uns. Eigentlich ist er immer pünktlich gewesen, aber als dann nach fünf Gropareks nicht kam habe ich mir Sorgen gemacht, zumal ich ihn bei sich Zuhause nicht erreichen konnte, obwohl ich mehrfach angerufen hatte."
Der Ermittler machte sich ein paar Notizen. „Ich verstehe und danach haben sie die Kliniken angerufen."
„Ja, in die Marweier Soileh Klinik wurde ein Patient eingeliefert auf den Namen und Beschreibung passten, ich bin also hergefahren und ..." Er konnte diese eine Träne nicht zurückhalten. „... dann habe ich ihn hier gefunden."
Der leitende Ermittler klappe sein Notizbuch zu. „Hören Sie, ich wünschte ich hätte mehr Zeit für Sie, ehrlich, aber wie haben heute dutzende ganz ähnlich gelagerter Todesfälle zu beklagen. Die Täter werden sich für diese Tat verantworten müssen, diese radikalen Gewaltverbrecher werden damit nicht durchkommen. Wenn sie einen Seelsorger benötigen, oder wir etwas für sie tun können."
Swakesh sah den Beamten an. „Es gibt nichts was sie für mich tun können, aber es gibt etwas das ich tun kann."
„Wenn sie an Rache denken, dann ..."
„Es ist jetzt nur noch eine Sache zwischen mir und RB 0820702, erstmalig gesichtet in Gitter 473. Ich habe es entdeckt und ich werde es auch beenden." Swakesh stand wortlos auf und ging hinaus ins gleißende Licht eines neuen Zyklus.
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Areion - Das letzte Echo
Science FictionWofür opfern wir unsere Freiheit? Wer verteidigt eine Gesellschaft gegen ein skrupelloses Regime? Auf dem weit entfernten Planeten Cyrill erleben die Bewohner eine Krise und tiefgreifende gesellschaftliche Umbrüche, bis eine Entdeckung alles verän...