Der Vorhof zur Hölle

153 12 1
                                    

„Mein Oberhaupt, ich kann es noch gar nicht fassen, es ist wie im Märchen!“ Der Berater war in seiner Aufregung kaum zu bremsen. „Ich werde dafür sorgen, dass man den Tag unseres Wahlsieges auf ewig in Erinnerung behalten wird. Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine große Demonstration unserer Anhänger, die sie mein Oberhaupt vom Balkon des Stadtschlosses aus abnehmen werden.“

Das Oberhaupt lächelte, während der Berater das Zimmer mit unsteten Schritten vermaß.

„Von dieser Demonstration muss eine klare Botschaft an unsere Gegner ausgehen: wir sind an der Macht!  Es herrscht eine neue Ordnung! Was halten sie von einem Fackelmarsch?“

„Zu altmodisch!“ wandte das Oberhaupt ein, sie saß auf einem Stuhl und blickte aus dem Fenster auf die Straßen Marweis.

„Sie haben natürlich absolut recht!“ Warf der Berater ein, während er eine devote Geste vollführte. „Da der Marsch zum Schloss durch die unterirdischen Gärten führt, wäre dies eine beeindruckende Kulisse für ein Lichterspiel, wenn wir die Beleuchtung der Tunnel senken.“

„Nehmen sie das Zeichen unserer Bewegung und hängen sie ein rotes Licht daran, den einfachen Leuten wird das gefallen.“ Das Oberhaupt wartete auf die Bestätigung ihres Beraters.

„Eine ausgezeichnete Idee, sie sollen rote Ketten über den Schultern tragen, an deren Ende ein rotes Licht leuchtet. Ein brillanter Einfall, wenn ich das mal so sagen darf. Ich werde alles Nötige in die Wege leiten.“ Er wandte sich der Tür zu.

„Da wäre noch etwas!“   Sie verfolgte noch immer das Geschehen auf den Straßen. „Lassen sie eine Vorlage für ein Amnestiegesetz erstellen, das unseren ‚Wahlhelfern‘ Straffreiheit garantiert. Schließlich haben sie sich um alle jene ‚gekümmert‘, die sich in der Nähe eines Wahlbüros offen gegen uns gestellt haben. Ich denke die haben eine Belohnung verdient, vielleicht ein paar Uniformen in den Farben unserer Bewegung?“

„Grandios und außerdem sollten wir ihnen die gleichen Befugnisse einräumen, die auch die staatlichen Ordnungskräfte besitzen. Wissen sie, nicht alle Beamten der Ordnungskräfte stehen hinter uns. Wir sollten ihnen unsere ‚Helfer‘ zur Seite stellen, damit wir die staatliche Ordnungsmacht unter Kontrolle haben.“

Sie drehte sich vom Fenster weg und wandte sich mit eisiger Miene ihrem Begleiter zu. „Mir ist es nicht entgangen, dass noch nicht alle rückhaltlos hinter unserer Bewegung stehen. Aber glauben Sie mir, das wird sich ändern. Die Ordnungskräfte sind nur der Anfang. Ich will, dass jede staatliche Einrichtung, jeder Arbeiter, jeder Akademiker und jedes Kind auf die Linie unserer Bewegung gebracht werden. Wer unserer Ordnung im Weg steht, dem werden wir mit der Peitsche den Weg weisen.“

Der Marsch der Radikalen zum Stadtschloss von Marwei lieferte einen Vorgeschmack auf das was noch kommen sollte. Die Beleuchtung  der unterirdischen Tunnel war gedämpft, so dass die 25 000 roten Lichter der Radikalen die Gärten in einen Vorhof der Hölle verwandelten. Die ehemaligen Wahlhelfer trugen nun eine rote Uniform mit einem weißen Barett, über ihre Schultern hingen schwere rote Ketten, an deren Ende ein rotes Licht befestigt war. Dieser Blutrote Strom wirkte endlos und wurde von den Parolen der Bewegung vorangetrieben. Neben den Uniformierten waren auch normale Bürger unter den Mitläufern, sie schleppten ebenfalls rote Ketten. Das Oberhaupt stand auf dem Schlossbalkon, in Sichtweite des Ausgangs der unterirdischen Tunnel. Noch bevor die ersten Teilnehmer der Demonstration zu sehen waren, konnte man einen roten Lichtschein  wahrnehmen der von den Wänden des Tunnelausgangs reflektiert wurde.  Die kleine hagere Frau auf dem Balkon stand am Geländer und hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Während ihre Berater die Menge begrüßten stand sie mit einem Gefühl der Genugtuung auf dem Balkon. Wie wenig sie doch tun musste, um diese Menge in Bewegung zu setzen. Ein paar Reden, ein Sündenbock und eine äußere Bedrohung, mehr war nicht nötig gewesen, damit ihr der Weg ins Staatspräsidentenamt offen stand. Sie war nicht mal eine besonders gute Agitatorin, sie hatte eher ein gutes Gefühl dafür, wann sie ihre radikalen Ideen einfließen lassen konnte. Es gelang ihr immer dann ihre Botschaft zu platzieren, wenn sie sich in Rage geredet und ihre Zuhörer emotional überwältigt hatte. Letztlich waren es keine Botschaften, die auf den Intellekt der Zuhörer abzielten, sondern auf deren Wut, Verbitterung und Hass. Vielleicht hätte ihr zu einem anderen Zeitpunkt oder unter anderen Umständen niemand zugehört. Aber hier und jetzt auf diesem Balkon, war sie auf dem Höhepunkt ihrer Macht angelangt. Sie würden ihr folgen und all diejenigen jagen, die sich nicht bedingungslos unterordnen.

Areion - Das letzte EchoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt