Ausfallschritt

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Der Flur des astronomischen Instituts bestand aus einem langen Säulengang, dessen Boden aus schwarzem Schiefergestein bestand.  Zwischen den grauen, glänzenden Säulen befanden sich Ausstellungsstücke zur Geschichte der Sternenbeobachtung. Nachbildungen der ersten Darstellungen des Planeten Cyril, als die Bewohner noch annahmen der Planet bestünde aus einer großen Halbkugel, die vom Glanz eines goldenen Sonnengottes stets hell erleuchtet wurde. Daneben standen die Instrumente der Aufklärung, erste Planetenmodelle mit den beiden Monden sowie der Grenze zur Dunkelseite. Ingraph ging mit kleinen, gemächlichen Schritten an den Ausstellungsstücken vorbei, da sie auf seinem täglichen Weg ins Büro lagen, nahm er sie schon gar nicht mehr wahr. Er öffnete die kleine Tür neben dem wuchtigen Hauptportal des Säulengangs und trat hinaus ins Freie. Der Campus zwischen den Gebäuden von Kautor98 wirkte ruhig und friedlich, es fanden gerade Vorlesungen statt. Der Eindruck wurde durch einen milden Wetterumschwung verstärkt, was eigentlich ungewöhnlich während der Sturmsaison war. Ingraph beschloss die Gunst der Stunde zu nutzen, um sich zu Fuß auf den Heimweg zu machen, er hatte früh Feierabend und wollte sich die verbleibende Zeit sinnvoll vertreiben. Insgeheim hatte er sich zudem vorgenommen gesünder zu leben, da ihn sein runder Wohlstandsbauch gerade  in Zeiten der Rezession nicht sonderlich sympathisch wirken ließ.

Es waren Millionen, die infolge der Krise in seinem Land verzweifelt nach Arbeit suchten, seit dem Krieg hatte man nicht mehr eine derartig hohe Zahl an Arbeitslosen zu beklagen gehabt. Dabei waren die vergangenen weißen Kreise recht gut verlaufen, fast schien es so, als hätte sich die Wirtschaft erholt. Aber es waren eben Kredite anderer Staaten, die den so fragilen Aufschwung möglich gemacht hatten. Als die Krise ausbrach und ganze Währungsreserven im Feuer der Gier verbrannten, war Zahltag. Schnell wurde klar, dass der Aufschwung auf tönernen Füßen stand und die Rückforderung der Verbindlichkeiten das Fundament zum Einsturz bringen musste. Man konnte dies in nüchternen Zahlen erfassen, aber hinter jedem Tagelöhner, jedem Obdachlosen, jeder Familie mit ausgezehrten Leibern, kam die erbarmungslose Wirklichkeit zum Vorschein und niemand konnte absehen, wann die Talsohle erreicht war.

Nachdem Ingraph den Komplex Kautor98 verlassen hatte, nahm er den kürzesten Weg nach Hause. Er kam an einer langen Allee vorbei, die für den motorisierten Verkehr gesperrt und bei diesem Wetter  äußerst belebt war. Die ersten drei Bettler bemerkte er sehr wohl und hatte ein Schlechtes Gewissen, weil er keinen Credit für sie übrig hatte, nachdem er zehn weitere passiert hatte war sein schlechtes Gewissen verflogen. Sie waren überall, kleine graue Gestalten, deren Augen nur halb geöffnet waren mit angespannten Nickhäuten. Man sah ihnen den Kummer deutlich an, bei einigen waren die Nickhäute geschwollen, die dunkelgraue Oberhaut hatte bei den meisten schwarze Flecken, was ein sicheres Anzeichen für Unterernährung darstellte. Immer wenn Ingraph einem der Bettler zu nahe kam, machte er einen Ausfallschritt und wendete seinen Blick ab. Das Leben an den Rändern der Gesellschaft war rau, nicht so glattpoliert und rein, wie das derjenigen, die sich ein Ticket für die Untergrundbahn leisten konnten, derjenigen die Arbeit besaßen. Ingraph hatte Mitleid mit diesen armen Gestalten und gleichzeitig widerten sie ihn an, gerade weil sie jene, denen es leidlich gut ging, an ein Schicksal erinnerten das jeden jederzeit ereilen konnte. Für einen kurzen Augenblick fühlte er sich sogar von ihnen bedroht, von diesen leidgeplagten Gestalten mit ihren schmerzverzerrten Gesichtern.  Er spannte seinen kleinen rundlichen Körper an und ging schneller, das nächste Mal würde er wieder die Untergrundbahn nehmen, das ist sicherer, denn schließlich war ja grad Sturmsaison.

Areion - Das letzte EchoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt