Kapitel 8: Herbstgeflüster

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Die Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit so zu offenbaren, ließ zu wünschen übrig, zumal die Darstellung nicht komplett war. Ja, sie hatten finanzielle Schwierigkeiten und hatten deswegen umziehen müssen, aber all die Hintergründe und was sich daraus entwickelt hatte, waren niemandem bekannt. Und das war nicht fair.

Seit diesem Zusammenstoß hatte Rico kaum etwas gesagt. Nicht einmal, als er mit Marvin auf dieser kleinen Bank abseits des Spielens und Spazierengehens gestrandet war, konnte er sich ihm zuwenden. Stattdessen kraulte er unablässig Denvers weiches Fell.

Diese Situation war auch nicht angenehmer als die vorherige, und vielleicht sollte er einfach gehen. Sollte ihn in Ruhe lassen und vergessen, was er sich mit ihm wünschte, anstatt ihm die Bürde aufzuerlegen, ihn jetzt auch noch zu trösten.

»Hey«, versuchte Marvin noch einmal, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Vergiss die Idioten.«

Ja, verdammt, er sollte verschwinden. Er drehte ihm ja ohnehin schon seit einer Ewigkeit den Rücken zu. Aber er konnte seinen Hintern einfach nicht von der Bank schwingen.

»Du musst mich nicht verteidigen. Die Sunnyside ist scheiße, das weiß ich selbst.«

»Darum geht es doch gar nicht.«

Als Rico immer noch nicht gewillt war ihn anzusehen, stieß Marvin einen langen Seufzer aus. Dann stützte er die Ellenbogen auf die Knie, und so weit nach vorn gebeugt schien es, als spräche er mit dem Hund.

»Vor ungefähr zwei Jahren standen wir kurz vor der Pleite. Meine Mom hatte ihren Job verloren, mein Dad bekam keine Aufträge mehr und meine Schwester war gerade aufs College gegangen.«

Seine knappe Zusammenfassung verfehlte ihr Ziel nicht. Rico war ganz Ohr. Irgendwie war es beruhigend zu hören, dass auch andere ihre Probleme hatten. Dann kam ihm sein eigenes nicht mehr so gewaltig vor.

»Deswegen habe ich irgendwann angefangen, bei Applebys zu arbeiten. Mittlerweile läuft es wieder ganz gut, aber ... Ich weiß, dass das wehtut. Das ist nicht witzig.«

Mist. Jetzt tat es ihm leid, dass er sich mit dem Elend anderer aufzubauen versucht hatte. Er hatte ja selbst erfahren, wie demütigend es war, so abzurutschen, dass einem sogar der eigene Wohnort peinlich war.

Aus Anerkennung für dieses Geständnis drehte er sich zumindest ein Stück weit zu ihm herum. Damit er aber nicht mit dem Streicheln aufhörte, legte Denver den Kopf auf seinem Schoß ab und blickte mit diesen warmen braunen Augen zu ihm auf. Dieser Hund war tröstlich, aber er schien ihn auch um eine Gegenleistung für sein Herrchen zu bitten.

»Stimmt. Und noch was, bevor du es nächste Woche bei der Arbeit sowieso merkst. Ich bin von der Schule runter. Bis jetzt habe ich für meinen Cousin gearbeitet, damit mehr Geld rein kommt.«

Marvin rutschte auf der Bank herum und kam dabei noch ein Stückchen näher.

Oh nein, er umarmte ihn doch nicht schon wieder? Jetzt war er gefangen. Links der Hund, der weiter nach ihm verlangte, rechts der Typ, der so unwahrscheinlich gut roch, dass er eine Gänsehaut bekam.

»Ich muss dir etwas sagen.«

Noch mehr? Er war doch gerade schon so ehrlich zu ihm gewesen. Jetzt hoffte er nur, Marvin hätte nicht auch noch ein düsteres Geheimnis für ihn auf Lager, damit sie sich zusammen in ihrem Leid suhlen konnten.

»Ich wollte dich damals schon fragen, ob wir mal was zusammen machen. Du warst so gut drauf, witzig, ein bisschen abgedreht, das hat mir gefallen. Aber dann warst du einfach weg. Deswegen?«

Rico nickte nur stumm.

»Verstehe. Na jedenfalls habe ich dich vermisst. Ich hatte ja nicht mal deine Nummer. Und gestern ... Ich bin so froh, dass du wieder da bist, Rico. Das ganze Drumherum spielt keine Rolle. Ich mag den Kerl, der du immer noch bist.«

Oh wow, da war wieder dieses Gefühl von Glück, das er kaum beschreiben konnte, und das wurde immer stärker. Mit laut klopfendem Herzen holte er Luft und war sich ziemlich sicher, dass er ein wenig zitterte.

»Ich mag dich.«

Der verdammte Eisblock in seiner Brust schmolz gerade nur so dahin und sein Herzschlag gewann wieder an Tempo. Das war sicher auch der Grund dafür, dass ihm dieses Lächeln schon in den Wangen weh tat.

Marvin neigte den Kopf, schien aber nicht zufrieden mit seiner Reaktion zu sein. Er wartete doch auf etwas. Auf eine Antwort, erkannte Rico nur eine Idee zu spät.

»Ja, ich ... mag dich auch.«

Nein, immer noch nicht zufrieden. Er seufzte noch einmal und sah ihn beinahe vorwurfsvoll an. Also das verstand er nun wirklich nicht. Etwas anderes hatte er doch auch nicht zu ihm gesagt.

»Nein, Rico, ich meine, ich mag dich. Und ich glaube, du magst mich auch.«

Der Blick aus diesen unglaublich blauen Augen war verheißend intensiv auf ihn gerichtet. Nur langsam setzte Ricos leicht benebeltes Hirn die Informationen zusammen, die er gerade bekommen hatte.

Wenn sein Kopf dem Ganzen auch noch nicht recht folgen konnte, Herz und Bauch stolperten gerade übereinander, als rauschte sein hauseigener Schwarm Zitronenfalter nur so durch ihn hindurch. Oh Himmel ...

»Du meinst ...«

»Ich meine, ich wäre gern mehr als nur irgendein Freund für dich.«

Rico bemerkte kaum, dass sie einander immer näher kamen. Sein Blick fiel auf diesen hübschen Mund, der einladend lächelte, und sobald Marvin die Hand nach ihm ausstreckte, war es um ihn geschehen.

Sobald sich ihre Lippen berührten, entfuhr ihm ein Seufzer. Eine nie empfundene Wärme durchströmte ihn und löste auch die letzte Blockade in seinem Inneren. Er griff nach Marvins Hand, spürte sein Lächeln auf den Lippen und war sich sicher, dass er nichts anderes mehr auf dieser Welt wollte.

Dieser erste Kuss machte ihm eines unmissverständlich klar: Er stand ganz eindeutig auf Jungs. Ganz besonders auf diesen Jungen.

Vergessen war Trübsinn ihrer letzten Unterhaltung, der Ärger der vergangenen Tage und Wochen, wenn auch nur für diesen Moment. Er spürte nur noch die Wärme und Zuneigung, in die Marvin ihn hüllte und seufzte ob purer Glückseligkeit.

Hier und jetzt konnte sein Leben nicht schöner sein.

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