Beinahe verlegen sah der ihn an. »Hi. Hast du vielleicht einen Moment Zeit?«
In diesem Moment schossen ihm so viele Fragen durch den Kopf, dass seine Zunge nicht hinterher kam sie zu formulieren. Also stellte er keine von ihnen. Dafür sah er ihn immer noch mit einem verkniffenen Blick an.
All der Mist war doch wirklich vorbei und er träumte sich das nicht nur zusammen. Oder?
Celia rollte genervt mit den Augen. »Er hat dich was gefragt.«
Richtig. Wenn er seiner vorlauten kleinen Schwester dafür sonst auch einen tadelnden Blick zugeworfen hätte, hatte sie mal wieder Recht. Klugscheißer.
»Ja. Klar. Moment.« Als José ihn ansah, als könnte er keine Minute auf ihn verzichten, strich er ihm kurz durch das dunkle Haar und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Ich bin gleich zurück.«
Etwas umständlich zirkelte er sich unter Chopper und seinem Bruder heraus, der sich dagegen zu wehren versuchte, indem er sich bewusst unhandlich gab. Keine Chance. So zerknackst Rico auch war, das schaffte er noch.
Jetzt musste er sich einen Weg durch das Minenfeld aus Spielzeugen und Sofakissen bahnen, um Marvin aus der Schusslinie zu ziehen. Denn der schien irgendwie nervös zu sein, und das fiel auch seiner Mutter auf.
»Ist schon okay«, versuchte er die zu beruhigen und drückte leicht ihre Schulter.
Seinen unerwarteten Gast führte er geradewegs in sein Zimmer, das ihm plötzlich viel zu klein vorkam. Sein Versuch, möglichst viel Abstand zu ihm zu halten, scheiterte an eben jener Enge, und so blieb ihm nur, mit verschränkten Armen in der einen Ecke Stellung zu beziehen.
Aber Marvin hielt sich nicht an die zugewiesenen Bereiche. Er hing seine Winterjacke über den Schreibtischstuhl und sah sich interessiert in seinem Zimmer um. Rico wurde ganz anders, als er sich der Notdürftigkeit seiner Einrichtung bewusst wurde.
»Woher weißt du, wo ich wohne?«, versuchte er, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Google.« Hatte geklappt. Marvin sah ihn an. »Laut Auskunft seid ihr die einzigen Alvez' in Sunnyside, die keine Telefonnummer hinterlegt haben. Aber so lange wohnt ihr hier ja auch noch nicht, also ...«
Stalker. Und verdammtes Internet. Sicher, es war schön, ihn zu sehen, auch das hatte er sich gewünscht. Und vielleicht könnte ein klärendes Gespräch die Wogen glätten. Aber das kam ihm dann doch irgendwie seltsam vor. Marvin hätte ihn ja auch einfach anrufen können.
»Wie geht es dir? Irgendwie bist du jedes Mal schlimmer dran, wenn wir uns sehen.«
Rico summte zustimmend. »Kleines Abschiedsgeschenk. Das wird schon wieder.«
Offenbar verstand Marvin genau, was er damit meinte. Der Ausdruck in seinem Gesicht hellte sich überrascht auf, denn Rico hielt, was er versprochen hatte. Aufzuhören. Doch darüber wollte er gerade nicht reden.
»Warum bist du hier?«
Marvin holte tief Luft, um sich zu wappnen, und Rico hoffte nur, hier drinnen roch es nach frischer Wäsche.
»Um mich zu entschuldigen. Rico, ich ... Ich war wirklich wütend, ja. Das einzige, das bei mir ankam, war, dass du mit jemandem zusammen warst. Aber ich habe das ganz falsch verstanden, oder?«
Als Marvins blauer Blick ihn wissend fixierte, stellte Rico augenblicklich sowohl Herz- als auch Hirnfunktion ein. Stattdessen fing er an zu schwitzen. Im Grunde hatte er ihm genau das sagen müssen, aber er hatte unterschätzt, wie sehr ihn dieser Ausdruck treffen würde.
Er fühlte sich nackt, bloßgestellt und unwahrscheinlich schwach. Die Scham darüber, so benutzt worden zu sein, saß tief, aber dennoch nah genug an der Oberflächen, um ihn zu einem Häufchen Elend schrumpfen zu lassen. Er zwang sich, den verletzten Blick auf sein Kopfkissen zu heften.
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Queens Blvd
Подростковая литература| Watty-Gewinner 2021 in YA | »Ich wünschte, du würdest aufhören, ständig die Luft anzuhalten, und wieder anfangen, dein Leben zu genießen.« Als Schulabbrecher hat der sechzehnjährige Rico andere Sorgen als Mathetests. Das schnelle Geld macht ihn zu...