Über sein Fahrrad gebeugt sah er auf, direkt auf die Kettenschaltung eines chicen Trekkingbikes, für das er seinen Besitzer umgehend beneidete. Die Form des Rahmens in mattem Carbonschwarz führte seinen Blick an diesem hinauf.
Die überraschte Stimme war ihm gleich seltsam bekannt vorgekommen und als ihn nun ein vertrautes Gesicht anlächelte, schoss er praktisch in die Senkrechte.
Die blauen Augen seines Gegenüber blickten freundlich und oh, dieses Lachen hätte er überall erkannt. Es hatte ihn bei jeder Schicht im Zoohandel begleitet und löste noch heute ein warmes Kribbeln im Bauch aus. Er war also immer noch da.
»Marvin!«
Der kickte lässig den Ständer seines Rads herunter und kam mit offenen Armen auf ihn zu. Als sei er es nicht anders gewohnt, zog er Rico in eine herzliche Umarmung. Zumindest versuchte er es.
Diese Begrüßung hatte etwas von einem Zusammenstoß in der U-Bahn, doch selbst nachdem er an ihm abgeprallt war, wich Marvin nicht zurück.»Wo hast du gesteckt? Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.«
»Ach, hier und da. War etwas hektisch in letzter Zeit.«
»Und jetzt? Legst du dir ein Haustier zu?«
In seiner momentanen Situation konnte er sich vielleicht noch einen Hamster leisten, aber das würde er seinem ehemaligen Kollegen sicher nicht auf die Nase binden.
»Tatsächlich«, besann er sich auf seinen eben erlangten Triumph, »habe ich mir gerade meinen alten Job zurückgeholt.«
Er hatte schnell Gefallen daran gefunden, die Welpen zu versorgen, die Katzen zu bürsten und die Singvögel durch Pfeifen zu einem kleinen Lied zu animieren. Und wenn er einmal einen seiner seltenen philosophischen Momente hatte, waren die melodisch blubbernden Aquarien seine liebste Beschäftigung gewesen. Jedenfalls bis Marvin aufgetaucht war.
»Ernsthaft? Das ist super, du glaubst gar nicht, wie langweilig es hier ohne dich war!«
Und schon wieder umarmte der ihn, während Rico wie eingefroren wirkte. Das war ja beinahe wie bei ihrer ersten Begegnung, als er sich so böse auf die Zunge gebissen hatte, dass er Marvin eine Begrüßung nur hatte entgegenmurmeln können.
»Weißt du, Appleby ist ja eigentlich ganz nett. Aber dieser Vogel ist echt aufdringlich.«
Die Erkenntnis, doch nichts Besonderes für Amadeus zu sein, ließ ihn kalt, denn viel wichtiger und viel schöner war die Aussicht, den verdammt süßen Marvin wieder regelmäßig zu sehen.
Sein Herz schlug so unstet wie damals, wenn er nur mit ihm im selben Raum gewesen war. Dabei hatte es in seinem Magen rumort wie nie zuvor und den Eindruck erweckt, er hätte seit Tagen nichts gegessen. Irgendetwas hatte der Junge an sich, dass Rico sich bei jeder Gelegenheit unglaublich dämlich angestellt hatte. Nun, so viel hatte sich seitdem ja nicht verändert.
Und während Marvin einen seiner unerschöpflichen Monologe hielt, erfreute Rico sich einfach an dieser fröhlichen Stimme. Es war überaus charmant, wie die am Satzende immer etwas abfiel, als ginge ihm die Puste aus.
»Hast du Lust, mal abzuhängen?«
Bitte, was? Diese plötzlich nicht mehr rhetorische Frage löste schon wieder dieses Hungergefühl aus, aber wenigstens war das etwas angenehmer als das Sodbrennen von vorhin.
Und so stotterte er nur minimal, als er zusagte, sich mit ihm zu treffen.
»Hast du ein Handy dabei?«
»Äh, ja ...«
Während sie ihre Nummern austauschten, konnte Rico nicht anders, als leicht gestört zu grinsen. Zwar hatte er keine Ahnung, was das bedeuten sollte, aber im Film wäre das jetzt so ein Wendepunkt gewesen, der die Handlung noch einmal antrieb.
Dieser Moment war so seltsam wie er kurz war, und viel zu schnell musste Marvin sich verabschieden, um nicht zu spät zu seiner Schicht im Laden zu sein. Schnell noch das Rad angeschlossen und schon erwartete Rico die nächste überschwängliche Umarmung.
Stattdessen hielt Marv ihm die Faust entgegen. Ein Glück, das konnte er wenigstens.
»Ich schreib dir, wenn ich Feierabend habe, okay?«
Das wäre etwa gegen achtzehn Uhr, dachte Rico und nickte, immer noch total dämlich grinsend, dann winkte er ihm zum Abschied. Wie peinlich, wer außer alte Leute winkte denn heute noch?
Er blieb allein am Fahrradständer zurück. Das war keine bewusste Entscheidung, sein Herz polterte nur so heftig in seiner Brust, dass er sich noch nicht rühren konnte.
Er hatte Marvins Nummer und würde sich bald mit ihm treffen. Um sicherzugehen, dass er sich nicht irrte, nicht noch auf dem Zeug von gestern Abend hing, fixierte er nun sein Handydisplay.
Irre. Als er heute Morgen aufgestanden war, um das Pausenbrot für seine Geschwister vorzubereiten, hatte er nur gewusst, dass er ein weiteres Mal zum Kifferdepot nach Greenpoint raus fahren und ein ganz mieses Gefühl haben würde. Er hatte Recht gehabt.
Die ganze Szene machte ihm zu schaffen. Die angespannten oder auch überdrehten Leute, das immer präsente Risiko erwischt zu werden, und gleichzeitig aber die Angst vor dem Ende, das ihn wieder in Geldnot bringen würde.
Jetzt allerdings hatte er die Möglichkeit, aus diesem Geschäftszweig auszusteigen. Das könnte sein ganz persönlicher Wendepunkt sein. Er könnte bald einem normalen Job nachgehen, mit normalen Leuten zusammen sein und vielleicht sogar ein paar normale Freunde haben. Er könnte Marvin haben.
Also, als Freund, klar, oder?
Obwohl die Vorstellung seinen Herzschlag direkt wieder beschleunigte.
Jetzt fühlte er sich ... Okay, keine Ahnung, was das genau war, aber dieses Gefühl war so viel besser. Und das wollte er festhalten. Er konnte Marvins Feierabend kaum erwarten.
Plötzlich zitterten seine Knie.
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Queens Blvd
Teen Fiction| Watty-Gewinner 2021 in YA | »Ich wünschte, du würdest aufhören, ständig die Luft anzuhalten, und wieder anfangen, dein Leben zu genießen.« Als Schulabbrecher hat der sechzehnjährige Rico andere Sorgen als Mathetests. Das schnelle Geld macht ihn zu...