Kapitel 27: Downer

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Rico hatte schon immer eine lebhafte Fantasie gehabt, zumindest war das die Meinung seiner Mutter gewesen, die von den sehr detaillierten Ausführungen seiner Träume und Vorstellungen immer beeindruckt gewesen war.

Nun, vielleicht auch beunruhigt, das war schwer zu sagen, denn träumen konnte er erstaunlich lebhaft. Oft genug fragte er sich, ob das wirklich nur ein Traum gewesen war oder er tatsächlich erlebt hatte, was er so schnell nicht vergessen könnte. Besonders wenn er sich so genau an die Stimmen und die Ausdrucksweisen derjenigen erinnerte, die in seinem nächtlichen Film aufgetreten waren.

In letzter Zeit, das musste er zugeben, drehten sich diese Träume immer wieder um Ängste und Hoffnung. Und manchmal konstruierten seine Gedankenbausteine eine für ihn viel erstrebenswertere Realität.

Das war sicher auch der Grund, aus dem er in dieser Nacht so intensiv von Marvin geträumt hatte. In seinem Schwebezustand nach dem Aufwachen hielt er umso stärker an ihren

nächtlichen Ausschweifungen fest, bevor er sich in dieses kalte, graue Morgen wagen müsste.
Was er sich da zusammen gesponnen hatte, lud ihn ein, einfach liegen zu bleiben, und noch ein wenig zu genießen, wie er ihren letzten gemeinsamen Nachmittag gedanklich umgeschrieben hatte.

In diesem Szenario gab es keinen beunruhigenden Anruf, nicht einmal ein Handy hatte man an seinem Set finden können. Da waren nur sie beide, ungestört, mit einander verbunden und absolut glücklich damit.

Die fröhliche kleine Melodie des Videospiels wurde durch ruhigere Töne ersetzt, vielleicht Smooth Jazz. Aber was im Hintergrund lief, kümmerte ihn nicht. Alles verblasste neben Marvins Stimme und den liebevollen Komplimenten, mit denen er einfach nicht aufhören wollte und die Rico so begierig aufsog.

Während er seinen Hals küsste und ihn langsam von den störenden Schichten Stoff befreite, konnte Rico seinen Atem auf der Haut spüren, an so aufregenden Stellen, dass ihm ein Kribbeln über den Rücken gelaufen war.

In seiner Nähe, unter seinen Händen war ihm immer wärmer geworden und er hatte gespürt, dass es Marvin genauso ging. Ein Streicheln hier entlockte ihm einen wohligen Seufzer, ein Kuss dort ließ ihn erschauern.

Sie hatten alle Zeit der Welt gehabt, um einander auf ganz intime Weise kennenzulernen. Nun, davon hatte er zwar keine Ahnung, aber jetzt hatte er eine Art Leitfaden, der ihnen beim nächsten lauschigen Zusammentreffen sicher helfen würde. Er freute sich schon sehr darauf.

Aber jetzt musste er seine all zu harmonischen Fantasien erst einmal hinten anstellen, denn als er sich fragte, wann dieses Treffen wohl stattfinden würde, fiel er so abrupt in die Gegenwart, dass er sich zunächst orientieren musste.

Warum lag er denn in Joaquins Bett? Den Kopf hätte er besser nicht gehoben, denn Himmel noch mal, der bestand gerade nur aus Pudding. Nur langsam kehrte die Erinnerung an den vergangenen Abend zurück, aber sie brachte sehr unschöne Gefühle mit.

Die Geldsorgen seiner Mutter, und damit auch seine, waren wieder sehr real. Deswegen hatte er auch diesen Deal durchziehen wollen, fiel ihm wieder ein, und dann hatte José diesen schrecklichen Unfall gehabt.

José ...

Wo war sein Handy? Seine Mutter hatte sicher schon hundert Mal versucht, ihn anzurufen, während er ... Moment. Er trug kein Shirt, das war nicht weiter ungewöhnlich, schließlich hatte er hier übernachtet, aber das erklärte nicht, wo seine Shorts waren.

Als er sich aufsetzte, spürte er schon diesen unangenehmen Druck, aber seine Frage nach dem Warum wurde von einer anderen Entdeckung beantwortet. Er hatte kaum die Beine aus dem Bett geschwungen, da stand er plötzlich in etwas Weichen.

Das hätte er einfach nur eklig, vielleicht sogar noch nachlässig gefunden, wenn sich ihm nicht gerade der Magen umdrehen würde. Das war ein Kondom. Und es war benutzt worden. Mit Schrecken wurde ihm klar, was in der letzten Nacht wirklich passiert war.

Oh Gott ... nein ...

Rico sah sich um, suchte nach Zeichen dafür, dass er sich irrte, dass dieser Traum wirklich nur ein Traum gewesen war, fand dabei aber lediglich seine Klamotten in einem großen Haufen vor dem Bett.

Mit zitternden Fingern hob er seine Shorts auf, doch bevor er auch nur daran denken konnte, die wieder anzuziehen, überkam ihn eine solche Scham, dass er sich unweigerlich zu seinem Freund umdrehte.

Joe schlief noch immer seelenruhig, dabei müsste er eigentlich von seinem eigenen Schnarchen geweckt werden. Rico rief nach ihm, bekam aber keine andere Reaktion aus ihm heraus. Er betete immer noch, dass das hier nicht war, wonach es aussah, auch wenn er keine Ahnung hatte, was genau das gewesen sein könnte.

»Joe. Joe!«

Aus alter Gewohnheit zog Rico an der Bettdecke, um ihn aufzuwecken, aber das hätte er besser gelassen, denn Joe war ebenfalls nackt. Seine Hoffnung, sie hätten trotz aller Gegenbeweise vielleicht nur experimentiert, erstickte an dem Brechreiz, den er kaum unterdrücken konnte.

Die Scham mischte sich mit einer völlig neuen Form von Wut und Abscheu, dass er ihn einfach nicht berühren konnte. Stattdessen nahm er das erste, was er in die Finger kriegen konnte, und warf es über dem Bett gegen die Wand. Das war dummerweise der Aschenbecher.

Joe schreckte hoch. In einer stickigen Wolke aus wirbelnder Asche begann er zu husten und ruderte orientierungslos zurück, bis er ungebremst aus dem Bett fiel und sich den Hinterkopf am Beistelltisch stieß.

Das hatte er verdient.

»Alter, hast du gerade ...? Wieso?«

Während Joe sich die Asche aus den Haaren schüttelte und dabei erneut zu husten anfing, zog Rico an, was er finden konnte. Dann zeigte er auf das ausgeleierte Stück Latex am Boden.
»Erklär mir das!«

Joes Blick wirkte verständnislos, denn dieses Bild sprach doch Bände. Wäre es ihm lieber gewesen, wenn er keins benutzt hätte? Nein, es musste etwas anderes sein. Dann erst erkannte er den verwirrten Blick seines Freundes richtig.

»Scheiße, hast du so einen Filmriss? Oh man, das tut mir leid. Vielleicht war die zweite Runde doch zu viel.«

»Die zweite ... was

»Pfeife. Wir haben uns noch eine geteilt und dann ... ist es irgendwie passiert.«

Offenbar deutete Joe seinen Blick als Neugier, zumindest aber als Interesse. Er ignorierte die versauten Bettlaken und griff nach Ricos Hand, damit er sich zu ihm setzte. Der Ruck reichte aus, um seine weichen Knie nachgeben zu lassen, trotzdem versuchte er, Abstand zu halten. Seine Stimme zitterte genauso wie seine Hände und es war nicht auszuschließen, dass er ihm gleich eine verpassen würde.

»Irgendwie ... passiert.«

»Ich hatte auch nicht damit gerechnet. Ich habe noch nie einen Kerl geküsst, das war schon irgendwie seltsam. Zuerst dachte ich, du willst dich nur trösten, dich von José ablenken, du weißt schon, aber dann ...«

Er sollte besser zum Punkt kommen. Küssen war keine Erklärung dafür, dass er verdammt noch mal nicht sitzen konnte. Das war nicht richtig, nein. Er träumte doch hoffentlich noch immer.

»Hör mal, du hättest es mir ruhig sagen können. Oh man, ich wusste ja, dass du auf Typen stehst, aber ich hatte ja keine Ahnung, dass du mich magst, also so magst.«

In mehreren kleineren Etappen wanderte Ricos Blick nun in das Gesicht seines Freundes, in dem zu sehen er gerade mehr befürchtete als reine Freundschaft.

Tatsächlich hatte Joe einen Ausdruck aufgefahren, den er noch nie an ihm gesehen hatte. Der war weich, beinahe liebevoll, und er erinnerte ihn leider zu sehr an den Blick, den Marvin ihm in letzter Zeit zuwarf.

Oh nein ...

Queens BlvdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt