Marvin nickte nur und spazierte weiter neben ihm her. Moment, so aber nicht. Warum wollte er das wissen und antwortete selbst nicht darauf? »Und du?«
Und dieses verdammt süße Grinsen hielt an, als der nun den Kopf schüttelte. Was sollte denn das jetzt bedeuten? Rico konnte nicht anders, als das Gesicht zu verziehen. Er bekam keine Gelegenheit, ihn danach zu fragen, bevor Marvin seinen Schlendergang mit einem plötzlichen Klammergriff stoppte.
»Sieh mal, da vorn.«
Rico blieb beinahe das Herz stehen, als er ihm verschwörerisch ins Ohr flüsterte. Diese plötzliche Nähe kam so unerwartet, dass er wahrscheinlich sogar ohne sein Zutun die Luft anhielt, und er war ihm so nah, dass er seine Körperwärme sogar auf der Wange spürte.
Lieber folgte er Marvins Blick auf eine von Herbstlaub überzogene Rasenfläche. Es dauerte einen Moment, bis er die zwei rostroten Eichhörnchen zwischen den Blättern erkannte.
Eines hob kauend den Kopf, den buschigen Schwanz in einer grazilen S-Form aufgestellt, und beobachtete den wühlenden Artgenossen.
Kaum sahen die beiden sich, begann schon eine perfide Jagd durch das Laub. Rico beobachtete diese putzige Szene mit einem breiten Grinsen.
»So süß«, flüsterte Marvin ihm wieder zu.
Als Rico ihm einen Seitenblick zuwarf, konnte er beim besten Willen nicht sagen, wen er damit meinte. Gewiss war allerdings die Hitze, die dabei langsam aber stetig in ihm aufstieg und mit Sicherheit untrügliche Beweise auf seinen Wangen hinterließ.
So gern er diesen butterweichen Ausdruck auch ergründen wollte, das war nicht gut, gar nicht gut nach diesem letzten Gesprächsthema. Er brauchte dringend Hilfe.
Sein Wunsch wurde erfüllt, als ein Nager den laut bellenden Denver in ihre Richtung lenkte. Mit einem glorreichen Tackle brachte der cremefarbene Blitz sie beide ins Taumeln.
Rico spürte nur den dumpfen Aufprall, den er mit dem Hintern abgefangen hatte, und Marvins Gewicht auf seiner Brust, als der sich halb aufrichtete.
Sein Blick huschte zum Hund, der seine Beute einen Baum hinauf gescheucht hatte und sich nun durch Jaulen darüber beschwerte, dass das Vieh klettern konnte.
Ein Glück für das Eichhörnchen.
Dann sah Marvin auf ihn runter, aber keiner von beiden rührte sich. Verfluchte Filmmomente ... Als Rico angestrengt schluckte, begann Marv schon wieder zu lächeln.
Es lag wahrscheinlich nicht daran, dass er mehr wog als Rico, aber ihm wollte keine andere Ausrede einfallen, warum er gerade keine Luft mehr bekam. Auch nicht, als der ihm beim Aufstehen half.
Es war aber weniger hilfreich, dass Marvin ihm den Schmutz abklopfte, denn auf seinen zitternden Beinen könnte er nicht noch mehr äußeren Einfluss abfedern. Und trotzdem konnte er nicht aufhören zu grinsen.
Während Marvin seinen Hund zu beschwören versuchte, doch endlich den armen Nager in Frieden zu lassen, wünschte er, er hätte etwas Charmantes erwidern können. Etwas, das die Stimmung zu ihren Gunsten beeinflusst hätte.
Dass diese nun brechen sollte, ahnte er noch nicht, als diese zwei Jungs auf sie zu kamen. Er dachte sich auch nichts dabei, als sie Marvin ansprachen, und weil er nicht abseits des Geschehens herumlungern wollte, gesellte er sich zu ihnen.
Im gleichen Moment bereute er seine Entscheidung, denn einen der beiden kannte er. Nun, nicht so richtig. Der leicht untersetzte Typ war etwa in seinem Alter und ihm nur deswegen bekannt, weil sie vor Ricos Umzug auf dieselbe Schule gegangen waren.
Und dummerweise hatte der auch in derselben Straße gewohnt. Ja, jetzt erinnerte er sich an den hämischen Gesichtsausdruck, als Rico total genervt seine Habseligkeiten in einem Karton aus dem Haus getragen hatte.
Offenbar kannte Marvin den schlaksigen Rotschopf aus der Schule und dachte, es wäre nur höflich, ihn als Freund vorzustellen.
Davor hätte Rico sich gern gedrückt, denn der kleine Fettsack musterte ihn schon, seit er in ihr Sichtfeld getreten war. Zum Glück schien Sand im Getriebe zu sein und er kam noch nicht drauf, wo sie sich wohl begegnet sein könnten.
Adam, die rothaarige Stelze, erinnerte Marvin an die heutige LAN-Party bei Bram. Es würde garantiert blutig werden und Brams älterer Bruder hatte ihnen Bier besorgt.
Schon bei der Aussicht auf Alkohol verzog Marvin leicht das Gesicht. Zum Glück hatte er mit Rico eine gute Ausrede. »Nein, danke. Wir haben schon etwas vor.«
»Dein Freund kann mitkommen. Je mehr, desto besser.«
Okay, Stelze schien in Ordnung zu sein, aber seinem Kumpel ging gerade ein Licht auf.
»Warte mal, ich kenne dich doch.«
Shit.
»Ja, klar, man. Bei euch stand doch der Umzugswagen vor der Tür.« Mit einem fiesen Grinsen wandte er sich an seinen Begleiter. »Das ist der Kerl, von dem ich dir erzählt habe.«
Der stutzte plötzlich. »Du bist der Typ vom Autobahnkreuz?«
Na wunderbar. Schlimm genug, dass ihr sozialer Abstieg von der ganzen Nachbarschaft mit angesehen wurde. Dass auch noch über ihn getratscht wurde, beschleunigte seinen Herzschlag auf unangenehme Weise. Aber erst als Marvins überraschter Blick in seine Richtung huschte, war er wirklich angepisst.
»Was willst du damit sagen?«
Der kleine Fettsack lachte auf. »Einladung zurückgezogen. Mit Sunnyside-Trash hängen wir nicht 'rum.«
Autsch. Der hatte gesessen.
Rico hatte keineswegs seinen Frieden damit gemacht, so aussortiert worden zu sein, obwohl er nichts falsch gemacht hatte. Er war gerade dabei, sich wieder zusammenzukleben, neu anzufangen, um hoffentlich irgendwann aus dieser miesen Gegend verschwinden zu können.
Gerade als diese Attacke anfing wirklich weh zu tun, schaltete Marvin sich ein. »Was? Sag mal, Pauli, geht's noch?«
Oh nein, Marvin würde sich da jetzt nicht einmischen. Sein Ego hatte gerade einiges auszuhalten, da konnte er es nicht gebrauchen, dass sein neuer Freund ihn auch noch zu beschützen versuchte. Die beiden Jungs kicherten einfach weiter.
»Lass gut sein, Marv.«
»Nein«, lehnte der entschieden ab. »Was soll gut daran sein, sich wie ein Arsch aufzuführen? Und seit wann ist Glendale die High Society? Hier wird auch nur mit Wasser gekocht. Nur weil deine Eltern deine Grandma ins Altersheim gesteckt und sich ihr Haus gekrallt haben, bist du noch lange nicht besser als der Rest von uns.«
Pauli verstummte, denn nun verkniff sich auch Adam nur noch schwer ein gemeines Lachen über ihn. Für Marvin war das aber keine Entschuldigung.
»Und was ist mit dir? Dein Dad hat im Sommer seine Arbeit verloren. Hat sich darüber jemand lustig gemacht?«
Damit waren die beiden Lästermäuler endlich gestopft und Marvin wartete fast eine Minute auf eine Entschuldigung, vergebens. Er hatte genug. Sollten die beiden doch daran ersticken.
»Ja. Scheißgefühl, oder? Einmal weiter gedacht, als ihr kotzen könnt, dann wäre euch das erspart geblieben.« Kopfschüttelnd wandte er sich an seinen Hund. »Komm, Denver, mit solchen Arschlöchern hängen wir nicht 'rum.«
DU LIEST GERADE
Queens Blvd
Teen Fiction| Watty-Gewinner 2021 in YA | »Ich wünschte, du würdest aufhören, ständig die Luft anzuhalten, und wieder anfangen, dein Leben zu genießen.« Als Schulabbrecher hat der sechzehnjährige Rico andere Sorgen als Mathetests. Das schnelle Geld macht ihn zu...