Kapitel 23: Wir ernten, was wir säen

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Seit beinahe einer Stunde hockte er nun schon in diesem kotzhässlichen Wartebereich für Familienangehörige und versuchte, nicht durchzudrehen. Auf der hellgrauen Blechbank tat ihm langsam der Arsch weh und die Deckenplatten hatte er bereits zweimal gezählt. Achtzig waren es exakt. Außerdem kam er langsam wieder von seinem Level herunter und es war eindeutig zu voll hier drinnen.

Der Pfleger, der ihn festgehalten hatte, hatte ihm dann den Weg hierher gezeigt, hatte ihn hier abgestellt und war verschwunden. Er war nicht sicher, wie lange er völlig reglos in der Tür gestanden und zittrig geatmet hatte.

Irgendwann hatte ihn eine ältere Dame angesprochen. Ob er verletzt sei, hatte sie ihn gefragt, denn das Blut an seinen Händen und auf seiner Jacke wirkte beängstigend. Als er daraufhin den Blick heben konnte, fiel ihm erst ein, dass er seiner Mutter noch gar nichts gesagt hatte.

Er hatte die kleine, rundliche Frau stehengelassen und war mit dem Handy in der Hand in eine ruhigere Ecke gelaufen. Es hatte gedauert, bis sie den Anruf angenommen hatte, und war bereits alarmiert, weil er sie überhaupt bei der Arbeit anrief.

Sie hatte sofort gewusst, dass etwas passiert sein musste, und ihn gedrängte, mit ihr zu sprechen, denn er brachte immer noch kaum ein Wort heraus. Rico fasste sich so kurz wie möglich, teilte ihr lediglich mit, dass José einen Unfall gehabt hatte und wohin sie kommen sollte. Dann fiel ihm ein, dass Celia noch allein zu Hause war.

Nur einen Wimpernschlag später hatte er aufgelegt und seine Mutter damit sicher noch mehr gestresst.

Und nun saß er hier und wartete auf sie und eine Information von den Ärzten, die er nicht mehr gesehen hatte, seit sich diese verdammten Fahrstuhltüren geschlossen hatten. Ihm schien als würde ihm quälend langsam die Haut abgezogen.

Seine Mutter würde ihn umbringen, da war er sich sicher. Im schlimmsten Fall hatte sie dann zwei Kinder verloren.

Oh Gott, José ...

Rico hatte lange nicht mehr gebetet, zumindest nicht ernsthaft, aber in diesem Moment flehte er um das Leben seines Bruders.

Er musste es schaffen. Er musste einfach. Das alles war seine Schuld und es war nicht fair, dass ein unschuldiges Kind für seine Fehler bezahlte.

Wahrscheinlich war José wieder einmal aufgestanden, um aufs Klo zu gehen. Er musste bemerkt haben, dass Rico nicht zu Hause war, vielleicht gerade erst aufgebrochen war. Aus irgendeinem Grund war er ihm gefolgt, mitten in der Nacht und im Schlafanzug. Er hatte gerade einmal seine Turnschuhe und eine leichte Jacke angezogen, um schnell hinter ihm herzukommen.

Rico wollte sich gar nicht ausmalen, wie er sich wohl gefühlt hatte, als er seinem großen Bruder dabei zugesehen hatte, wie der aus dem Haus geschlichen war, dubiose Gestalten an einem Friedhof getroffen und Geld für etwas bekommen hatte, von dem José nie etwas wissen sollte.

Ja, er war wirklich ein tolles Vorbild.

Aber er gelobte Besserung. Er würde dieses Zeug nie wieder anfassen, es weder nehmen noch weitergeben, egal, unter welchen Umständen, wenn José es nur schaffen würde. Dann würde er an sich arbeiten, versprach er.

Er würde seine Mamá auf ehrliche Weise unterstützen, und wenn sie wieder auf einem grünen Zweig angekommen waren, würde er ihrem Wunsch entsprechen und die Schule beenden, damit sie wenigstens einmal in ihrem Leben stolz auf ihn sein konnte.

Er musste das einfach überstehen.

»Rico!«

Mit tränenfeuchten Augen sah er nun in das Gesicht seiner Mutter. Sie schob sich durch die wartenden Leute hindurch, dicht gefolgt von seiner Tante Estelle. Die beiden sahen so fertig aus, wie er sich fühlte.

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