Kapitel 15: Geliefert

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»Was, zum Teufel, tust du da?«

Hektisch atmen, wie sich herausstellte, zu mehr war er gerade nicht in der Lage.

Der Typ vor ihm war im Vergleich zu ihm beängstigend groß, hatte breite Schultern und ein finsteres Gesicht, das durch den wütenden Blick aus braunen Augen nicht gerade freundlicher wirkte.

»Wa...«

Sein Stammeln war berechtigt, denn ihm schlug gerade eine Mordslaune entgegen, aber auch ein verstörend angenehmer Geruch. Das passte für sein armes Hirn nicht zusammen und so fand es auch keine Antwort auf die Frage, was er eigentlich mit ihm machte.

»Kann ich dir helfen?«

Dass er wenigstens das heraus brachte, war schon eine Leistung, auf die er in einem anderen Augenblick sogar stolz gewesen wäre. Jetzt allerdings brachte ihm sein bisschen Mut nur einen noch strengeren Blick ein.

»Du kannst mir erklären, warum du nicht wie die anderen Kasper in deinem Alter im Unterricht bist. Warum lungerst du vor dem Schulhof herum?«

Wer, um Himmelswillen, war der Kerl? Durch den Nebel seiner plötzlich aufkeimenden Angst hindurch hatte er das unsichere Gefühl, den schon mal gesehen zu haben, aber mit dem Gesicht war es nicht unwahrscheinlich, dass er ihn mit einem Model der GQ verwechselte.

Nein, an so einen Wahnsinnkerl würde er sich erinnern. Aber er selbst war eher der Durchschnitt mit einem Allerweltsgesicht, vielleicht verwechselte der Typ ihn mit jemandem. Sein viel zu laut klopfendes Herz hoffte das sehr.

»Ist nicht meine Schule.«

»War es aber mal. Was ist passiert?«

Also jetzt wurde es aber unheimlich. Er trug schließlich keinen Stempel auf dem Sweatshirt, der ihn als Schulabbrecher der Martin Luther kennzeichnete. Rico war nicht nur verwirrt, er wurde gerade richtig nervös.

»Nicht? Na gut. Dann verrat' mir doch, warum in deinen Taschen etwas anderes ist als Energydrinks und Schokoriegel.«

Und jetzt wurde es gefährlich. Rico hatte zwar keine besondere Erfahrung beim Dealen vorzuweisen, aber dieser herablassende Ton und die Überheblichkeit, die der Kerl ausstrahlte, erinnerten ihn an den einen Cop, mit dem er mal zusammengestoßen war.

Bis zu diesem Tag hatte er nur davon gehört, dass Latinos nur all zu häufig ins Visier der Polizei gerieten, allein schon weil sie so verdächtig wirkten. Er hatte nichts getan, abgesehen vom Ignorieren der roten Ampel, aber hey, das war eben New York, dennoch hatte man ihn wie einen Schwerverbrecher behandelt, dabei war er erst vierzehn gewesen.

Seitdem machte er einen großen Bogen um diese Typen, besonders seit er einem gängigen Klischee entsprach.

Dem Typ hier fehlte die blaue Uniform, aber sein Ton war mindestens genauso rau, und Rico ahnte bereits, was als nächstes passieren würde.

Er sollte Recht behalten. Als er ihm darauf keine Antwort gab, packte der Kerl ihn am Kragen und zerrte genauso an ihm herum wie die Panik, die in ihm rumorte. Mit geschickten Fingern angelte er die restlichen Tütchen aus seiner Jackentasche, während Rico heftig aber vergebens versuchte, ihn von sich zu stoßen. Doch damit war er noch nicht fertig.

Rico spürte mehr als dass er wirklich wahrnahm, wie ihm auch noch das letzte E und dazu ein ordentliches Bündel Scheine abgenommen wurden. Erst als der Mistkerl hatte, was Rico sich verdient hatte, ließ er von ihm ab.

»Ist das dein verdammter Ernst? Cazzo, ich sollte deinen Arsch zum nächsten Revier schleifen! Was denkst du dir, verdammt noch mal, dabei?«

Rico brachte kein Wort heraus. Er zitterte und ihm wurde gerade sehr bewusst, dass es keinen Ausweg aus dieser Lage gab. Er war erwischt worden, an seinem zweiten Tag im Job, und er würde gleich eine Zelle von innen sehen.

Diese Erkenntnis schnürte ihm die Kehle zu, dass er buchstäblich keine Luft mehr bekam. Dazu stieg die Hitze in seinem Magen gerade unangenehm seine Speiseröhre hinauf, und als wäre sie dort schlicht explodiert, begann er im gleichen Moment zu schwitzen.

Mit zitternden Knien wurde er sich bewusst, dass er keine Chance hatte, dagegen anzukämpfen. Weglaufen konnte er vergessen und das machte ihn gerade so wütend, dass ihm Tränen in den Augen brannten. Diese körperliche Reaktion war eine einzige Demütigung und ließ ihn noch schwächer erscheinen, als er ohnehin schon war.

Der Kerl stieß ihn noch einmal gegen die Wand, bevor er sich zu ihm herunterbeugte.

»Wenn ich dich oder etwas von diesem Dreck hier noch mal sehe, ich schwöre dir, dass deine eigene Mutter dich nicht wiedererkennen wird. Und erst dann überlasse ich dich der Polizei.«

Rico hatte keinen Zweifel daran, dass er das tun würde, und die Träne, die er einfach nicht halten konnte, trat stellvertretend die Flucht für ihn an. Ihm war schon speiübel.

»Und jetzt nimm ja die Beine in die Hand, bevor ich mich vergesse.«

Was? Rico zitterte noch immer. Als er wackelig den Kopf hob, schämte er sich noch mehr für sein verheultes Gesicht, aber wichtiger war gerade die Aussicht auf ein Entkommen. Dieser finstere Blick würde ihn verfolgen, so viel stand fest. Aber der Kerl nickte die Straße herunter.

»Verschwinde.«

Er wartete keine weitere Bestätigung ab. Rico duckte sich an dem Fremden vorbei und tat zwei unsichere Schritte, bevor die Panik sich wieder meldete und ihm einen ordentlichen Tritt gab. Dabei stolperte er über seine eigenen Füße, aber er schaffte es endlich zu laufen.

Und er rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Vorbei an anderen Fremden, denen er nur ungeschickt ausweichen konnte, vorbei an Häusern und Autos, die ihm bei seiner Hatz nur im Weg waren. Er rannte, bis seine Lungen brannten, seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten und er selbst ein völlig zerstörtes Bündel an irgendeiner Straßenecke war.

Santa María, Santa Barbara und wenn es nach ihm ginge auch noch Santa Claus ... Er dankte allem Heiligen, an das er sich gerade erinnerte, denn er war einer Katastrophe entgangen. Keine Ahnung, warum der Kerl ihn nicht auf der Stelle fertig gemacht hatte, aber als er sich hektisch umsah, ob er dem wirklich entkommen war, stellte er fest, dass er sicher war.

Nun, so sicher wie er in diesem Moment eben sein konnte.

Er lehnte sich gegen eine Hauswand, um nur kurz auszuruhen, doch dann versagte sein armer Körper den Dienst. Kraftlos rutschte er an den Ziegeln herunter, bis er mit dem Hintern auf dem Asphalt landete. Ihm dröhnte der Schädel von seinem irren Sprint durch halb Queens und von all den wirren Gedanken, die einen Weg nach draußen suchten.

Müßig stützte er den in die Hände. Was passierte hier gerade? Klar, er war dem Verrückten entkommen, aber der hatte jetzt sein gesamtes Geld. Camilos Geld, um genau zu sein. Noch dazu den Rest seiner Ware, und so war Rico gerade vollkommen abgebrannt.

Dieser Gedanke hallte in seinem Oberstübchen wider, bis sein Atem sich beruhigt hatte und sein Hintern eine verdammte Kälte meldete. Okay, körperlich gesehen ging es ihm ganz gut. Er sollte jetzt schleunigst nach Hause gehen und sich überlegen, wie er dieses Desaster reparieren konnte.

Ja, genau. Das sollte er tun.

Rico raffte sich auf, stützte sich an der Wand ab, um überhaupt aufstehen zu können. Das klappte doch ganz gut. Dann ging er nur zwei Schritte und förderte sein Frühstück ungebremst auf die Straße.

Er war so was von geliefert.

Queens BlvdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt