Rico klopfte nicht an, bevor der seine Zimmertür einen Spalt öffnete. Er kündigte sich lieber mit einer ruhigen Stimme und einem versöhnlichen Lächeln an. Als er José hinter seinem Bett hocken sah, zog sich sein Magen trotz seiner Vorbereitung auf dieses Gespräch zusammen.
Der Junge hatte sich so klein wie möglich gemacht, die Knie an die Brust gezogen und die dünnen Ärmchen um sie gelegt, den Kopf hielt er gesenkt und er zog immer wieder die Nase hoch.
Der Arme.
Rico kam ungebeten herein und schloss langsam die Tür hinter sich. Aber er wartete noch, lehnte sich an und lächelte aufmunternd weiter. In dieser Stimmung hielt er es für besser, ihm ein wenig Abstand zu gönnen. Zumindest so lange, bis er selbst mehr Nähe verlangte.
Er sah sich um. Der kleine José hatte sich wahrscheinlich am schnellsten in der neuen Wohnung eingelebt. Obwohl er sich ein Zimmer mit seiner älteren Schwester teilte, die ihn lieber loswerden als bespaßen wollte, und er sich deswegen lieber in Ricos Zimmer aufhielt, hatte er es sich in seinem kleinen Reich gemütlich gemacht.
Viel war es nicht, was ihnen geboten wurde, aber seit José ein Baby war, erfuhr die Sammlung seiner Stofftiere bei jedem Anlass Zuwachs. Als großer Fan von Dschungeltieren reihten sich hier Urwaldbewohner aller Größen und Farben aneinander.
Es wunderte Rico nicht, dass er nun seinen liebsten Plüschbegleiter, Chopper das grasgrüne Krokodil, um sich gewickelt hatte, um sich selbst ein wenig zu trösten. Der zarte kleine Junge war aufgeweckt und freundlich, aber auch schon immer schreckhaft gewesen. Und so etwas wie eben hatte er noch nie erlebt.
»Du musst keine Angst haben«, versuchte er ihn zu beruhigen. »Es war doof so zu streiten. Tut mir leid.«
Nur zögerlich sah José zu ihm auf und klammerte sich an Chopper. »Sie hat dich gehauen.«
»Ja, aber ich war auch ein Ar... Ich war sehr frech zu Mom.«
»Was hast du denn gemacht?«
»Das möchte ich nicht wiederholen.«
Nein, trotz des Ärgers und der grauenvollen Aussicht, nicht einmal hier noch willkommen zu sein, wollte er ihn nicht beunruhigen. Jetzt war es erst einmal wichtig, ihm den Schrecken zu nehmen, den sie ihm eingejagt hatten.
Langsam, aber zielstrebig ging Rico nun auf das Bett seines Bruders zu und setzte sich wie selbstverständlich in eine möglichst bequeme Haltung. Es dauerte nicht lange, bis José zu ihm gekrabbelt kam, um sich an ihn zu kuscheln.
»Ich weiß, dass du Angst hattest, aber das ist wirklich nicht nötig. Mom hat ... Glaub mir, sie wollte das nicht tun. Und ich wollte auch nicht so gemein zu ihr sein. Wir haben beide Fehler gemacht.«
Er wäre wahrscheinlich glaubwürdiger, wenn er seine Aussage selbst für wahr hielt. Aber er war sich zumindest bei sich selbst nicht sicher. So eine Aussprache war lange überfällig gewesen, aber es hatte nie den richtigen Zeitpunkt gegeben.
Immer, wenn er sich nach Trost gesehnt hatte, war seine Mutter entweder bei der Arbeit gewesen oder hatte anders über ihren Sorgen gebrütet. Es stimmte schon, sie war selten da, aber ganz Unrecht hatte sie auch nicht. Sie arbeitete wirklich nur ihretwegen so viel.
»Das sieht schlimm aus.«
Josés ängstlicher Blick lag auf seinen blauen Flecken, denn offenbar kombinierte er seine Aufmachung mit dem eben Erlebten.
»Das war nicht Mom, Jo. Ich habe mich mit so einem Kerl geprügelt.«
»Warum?«
Weil er ein verdammter Idiot war und nicht auf Benito gewartet hatte. Nein, er musste ja in die Höhle des Löwen hineinrennen und sich als Opferlamm anbiedern. Offenbar war er masochistisch veranlagt.
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Queens Blvd
Teen Fiction| Watty-Gewinner 2021 in YA | »Ich wünschte, du würdest aufhören, ständig die Luft anzuhalten, und wieder anfangen, dein Leben zu genießen.« Als Schulabbrecher hat der sechzehnjährige Rico andere Sorgen als Mathetests. Das schnelle Geld macht ihn zu...