Kapitel 36: Weitsicht

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Nach diesem Gespräch brauchte Marc ein Glas Wein und dringend eine Zigarette. Der winzig kleine Austritt an seinem Schlafzimmerfenster verschaffte ihm zumindest so viel Draußen, dass er nicht in der Wohnung rauchen musste. Und nun stand er schon seit zwanzig Minuten im kalten Wind und ärgerte sich.

Der arme Junge hatte sich eine Auszeit verdient.

Es war schwer zu sagen, was den Kleinen mehr mitnahm; das erste Mal als ungewollten Fehltritt mit dem Falschen verbuchen zu müssen oder damit den neuen Freund betrogen zu haben. Schmerzhaft war beides.

Zwar hatte Rico mehrfach betont, dass er das nicht gewollt hatte, aber Missbrauch ließ er auch nicht gelten. Er war wütend auf diesen Joaquin, seinen vermeintlich besten Freund, aber er konnte ihm nicht einmal die ganze Schuld daran geben.

Auch auf Marc hatte es den Eindruck gemacht, als sei sein Kumpel ein wenig verknallt in ihn, wer wusste schon, wie lange er so heimlich schwärmte. Da war es schwer, ihm einfach Vorsatz und niedere Absichten zu unterstellen, zumal er ebenfalls nicht nüchtern gewesen war.

Er wollte das nicht entschuldigen, keineswegs. Aber letztlich waren sie zwei dumme Teenager, die die Kontrolle über ihre Sinne abgegeben und Dinge getan haben, die zumindest einer von ihnen im Nachhinein bereute.

Aber wie man damit umgehen sollte ...

Marc drückte gerade die Zigarette aus und ließ den Filter in die kleine Keramiktasse fallen, die er zwischen Geländer und Regenrinne geklemmt hatte, als Rico nun aus dem gegenüberliegenden Badezimmer kam.

In Ordnung, vielleicht konnten sie den Abend mit etwas Beruhigendem retten. Vielleicht sogar die Stimmung ein wenig heben. Aber dafür brauchte Marc noch einen Schluck Merlot. Zum Glück hatte er heute eingekauft.

Diese kleine Rettungsmission war allerdings nur sein Plan B, wenn man das so überhaupt so nennen konnte, denn einen zerstreuten und zugleich emotional so unausgeglichenen Teenager bei sich aufzunehmen, hatte er sicher nicht geplant. Und nichts, was sich daraus ergeben hatte.

Und er hatte keine Ahnung, wie er ihm bei diesem letzten Problem helfen sollte. Mit so einer Situation hatte er dankenswerterweise noch nie zu tun gehabt. Letztlich konnte er ihm nur bei den offensichtlichen Dingen unter die Arme greifen.

Mit einem vollen Glas ging er zu ihm ins Wohnzimmer. Rico hatte sich schon auf der Couch zusammengerollt, setzte sich aber ruckartig auf, als er Marc bemerkte.

»Besser?« Rico nickte nur, vermied es aber zu sprechen. Konnte er ihm nicht verübeln. »Soll ich dich lieber allein lassen?«

Ricos Dackelblick sagte eindeutig Nein, aber er wollte ihn auch nicht zwingen, ihm die Hand zu halten, nachdem er schon so viel für ihn getan hatte. Er kam sich ohnehin schon ganz hilflos vor, naiv noch dazu, und dumm, weil er einem völlig Fremden freiwillig in seine Wohnung gefolgt war. Das sprach nicht gerade für seinen gesunden Menschenverstand.

Aber er wollte jetzt nicht mit seinen Gedanken allein sein. Unter anderen Umständen hätte er sich jetzt wohl aufs Dach verzogen und wehmütig die Skyline betrachtet, während er dicken weißen Rauch ausstieß. Er brauchte Ablenkung.

Marc lächelte erneut so gnädig und nahm auf dem gegenüberstehenden Sessel Platz, bevor er den Fernseher einschaltete und ein paar Minuten einer Late-Night-Show zu folgen vorgab, die ihn selbst kein Stück interessierte.

In dieser Sendung, und er musste sich ernsthaft fragen, warum man daraus eine ganze Show machte, ging es um die Verwandlung vom hässlichen Entlein in den schönen Schwan von ehemals eher unscheinbaren Mädels, die an der Highschool kaum beachtet wurden. Ein paar Jahre später präsentierten sie sich aufgetakelt, manche mit künstlichen Möpsen, im Fernsehen, um dem dummen Jungen, der sie damals nicht zum Abschlussball eingeladen hatte, zu zeigen, was ihm entgangen war.

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