Nach diesem verstörenden Urteil seiner Mutter brauchte Rico dringend eine Pause. In seinem Zimmer verschloss er die Tür und lehnte sich ungewohnt entkräftet gegen das lackierte Holz. Einen Moment schloss er die Augen und versuchte, tief Luft zu holen, und scheiterte doch selbst an dieser einfachen Aufgabe.
Es lag an der Luft, ganz sicher, aber das könnte er ändern.
Er schnappte sich die alte Fleecejacke, die über dem Schreibtischstuhl hing, schob sein Fenster auf und stieg auf die klapprige Feuerleiter. Vom obersten Stockwerk aus war es nun nicht mehr schwer, aufs Dach zu kommen.
Niemand kam so spät noch hier herauf, nicht einmal der Hausmeister, der im Erdgeschoss wohnte, setzte einen Fuß aufs Dach, wenn er es vermeiden konnte. Also war die Tür zum Treppenhaus verschlossen und der Aufgang bot ihm Schutz vor dem eiskalten Oktoberwind.
Die Jacke fest um sich ziehend hockte er sich auf seinen Platz, mit dem Rücken zur verhassten Sunnyside, den Blick auf die Wolkenkratzer der Stadt gerichtet, die niemals schlief. Hier vom Dach aus, bei gutem Wetter, hatte man eine Wahnsinnsaussicht auf die Skyline des Big Apple.
Wenn man sie von den Nachahmern zu unterscheiden wusste. So wie die Jackson-Park-Luxusappartments drüben in Hunters Point. Ein verzweifelter Versuch, etwas von dem Glanz der City auf Queens zu übertragen.
Manhattan lag praktisch gegenüber. Ein Hohn, wenn man bedachte, wo er sich gerade aufhielt. Das war wohl damit gemeint, wenn man sagte, etwas wäre so nah und doch so fern. Es wäre gar nicht weit. Er müsste nur auf die Straße hinaus und immer geradeaus, den Queens Boulevard entlang, über die Brücke und schon wäre er dort.
In der Glitzerstadt, die er doch nie erreichen würde.
Und obwohl er sich dessen vollkommen bewusst war, kam er gern hier hoch und hielt Ausschau nach einem Leben außerhalb seiner Reichweite. Ein bisschen Selbstgeißelung gehörte wohl eben einfach dazu.
Hier oben war etwas anders. Es war stockdunkel und arschkalt, aber auch so befreiend. Der Straßenlärm drang nur noch gedämpft zu ihm herauf, Menschen sah und hörte er hier nicht. So hoch oben kreuzten nicht einmal Tauben seinen Weg. Er war ganz allein.
Und er genoss dieses Wissen.
Wohl zum ersten Mal an diesem Tag sog er die kalte Luft tief in seine Lungen und hatte nicht das Gefühl daran zu ersticken.
Darauf hatte er sich den ganzen Tag gefreut, und es war auch unheimlich schön gewesen.
Aber er hatte jetzt schon das Gefühl, dass Marvin ihm mehr gab als er selbst von ihm bekommen könnte. Das war ihm schon gestern im Park aufgefallen, aber zu dem Zeitpunkt hatte er es noch nicht verstanden.Marvins gute Laune war ansteckend, oh ja, aber wirklich Anteil nahm er an ihr nicht. Irgendetwas hinderte ihn daran, sich wirklich einmal gehen zu lassen, etwas, vielleicht sogar das Leben, zu genießen.
Er konnte es nicht bestreiten, er fühlte sich einfach bei allem eingeschränkt.Aber wie sollte er sich in seiner Lage auch sonst fühlen? Während sich andere in seinem Alter Gedanken über die Wahl des Colleges und ihres Hauptfachs machten oder wo sie mit ihren Freunden die freie Zeit verbrachten, die ihnen zwischen Schulschluss und Zubettgehen blieb, dümpelte er nur herum.
Während andere von einer steilen Karriere in einer tollen Branche träumte, hatte er keine Ahnung, was er einmal machen wollte. Er wusste nur, was er nicht tun wollte. Dazu zählte seine aktuelle Beschäftigung, aber auch andere, normale Dinge hatte er längst für sich ausgeschlossen.
Für viele Jobs und Gelegenheiten fand er immer wieder Gründe, die gegen sie oder gegen ihn selbst sprachen. Und im Grunde hasste er Menschen.
Nein, das stimmte nicht. Eigentlich war er gern unter Leuten, zumindest war das einmal so gewesen. Und eigentlich bot er auch gern seine Hilfe an, wenn sie jemand brauchen konnte. Früher jedenfalls.
Scheiße.
Seine Mutter hatte da ein Pflaster abgerissen, das nicht nur eine hässliche Schramme, sondern eine sich stetig verschlimmernde Infektion versteckte.
Ja, wann war er wohl so wütend geworden?
War es der Moment, in dem sie ihnen verkündet hatte, dass sie ihr recht schönes Leben in Glendale aufgeben und umziehen würden? Oder als er sich schlicht nicht dagegen wehren und zumindest vorübergehend bei Joe hatte einziehen dürfen?
War es, als er deswegen mitten im Jahr die Schule hatte wechseln müssen, weil die neue Wohnung in einem anderen Schulbezirk lag, während das für seine kleine Schwester aber nicht galt, weil es ohnehin ihr letztes Jahr an der Grundschule war?
Oder war es, als er in der neuen Schule nicht einfach nur der Neue, sondern auch der ewige Außenseiter gewesen war?
Als man ihn aufgrund seiner Herkunft der Clique der Latinos zugeordnet hatte, die ihn aber für einen verwöhnten Snob hielten und er ihrer Meinung nach keiner von ihnen war.
Vielleicht war er deshalb so wütend, weil er sich allein und ausgestoßen gefühlt hatte, umringt von Leuten, die ihn nicht kannten und auch nicht kennenlernen wollten.
An seiner alten Schule war ihm so etwas nie passiert. Da musste er sich keine Sorgen machen, nicht die Nachhilfe zu bekommen, die er brauchte, um in Mathe zu bestehen. Oder Angst davor haben, dass ihn die Jungs in der Umkleidekabine belauerten, um ihn bei der besten Gelegenheit halb nackt dem Spott der ganzen Klasse auszusetzen.
Rico war nie nachtragend gewesen, im Gegenteil. Er war ein sehr harmonischer Mensch. Jemand, der vergab und von vorn anfing oder eben genau da weitermachte, wo ein Streit etwas zu beenden versuchte.
Aber diesen Typen wünschte er heute noch, den Schmerz kennenzulernen, den sie ihm zugefügt hatten. In jeder Hinsicht.
War es da verwunderlich, dass er Trost bei seinem besten Freund suchte? Immerhin war er der einzige, dem er von seinem Spießrutenlauf erzählt hatte. Denn der gab ihm, was seine Mutter nicht aufbringen konnte: Verständnis.
Ja, er wusste, dass sie ebenfalls einen Verlust erlitten hatte. Ihren Job als Bibliothekarin hatte sie nicht freiwillig hergegeben, und da er wusste, wie es sich anfühlte, gefeuert zu werden, konnte er ihren Frust nachvollziehen. Aber diese radikale Veränderung hatte ihm einen so heftigen Tritt verpasst, dass er nicht mehr aufstehen konnte.
Stattdessen hockte er jetzt hier auf dem Dach. Eine Beschäftigung, die er erst betrieb, seit sie in dem sechsstöckigen Wohnblock lebten.
Besser als jetzt, hatte sie gesagt. Rico starrte auf die in der Ferne leuchtenden Hochhäuser. Sie lockten mit Geld, Stil und Lebensfreude. Sie versprachen etwas Besseres. Nun, dort anzukommen, wäre doch so etwas.
Wie es sich wohl anfühlte, dort zu wohnen, zu arbeiten? Wahrscheinlich waren die Leute dort nicht weniger gestresst von dem Bestreben, gut zu verdienen und in ihrer Firma aufzusteigen, eine Familie zu ernähren und sich neben all dem Ärger auch noch fit zu halten oder zumindest nicht durchzudrehen.
Aber sie kamen sicher in ein warmes Zuhause zurück.
Eines Tages, dachte er, könnte auch er an diesem Leben teilhaben.
Vielleicht hätte er dann einen Job, den er gern machte, in diesem chicen Stadtteil und könnte sich locker eine Wohnung für sich allein leisten. Vielleicht würde er dann auch mal in Clubs tanzen, vorzugsweise mit Marvin.
Er musste schmunzeln, als er sich ihn tanzend vorstellte. Das sähe sicher albern aus, aber er hätte auch dabei ein sagenhaftes Lächeln auf den Lippen.
Nun allerdings fragte er sich, ob sie so eine Zeit einmal miteinander erleben würden. Wie wären sie wohl in ein paar Jahren, wenn sie einigermaßen erwachsen und selbstständig waren? Wären sie dann immer noch ein Paar? Wären sie glücklich miteinander?
Rico ahnte, dass er glücklich mit Marvin wäre. Aber galt das dann auch für ihn? Könnte Rico ihm geben, was er sich wünschte? Liebe, Vertrauen und Spaß am Leben?
Könnte er wirklich je aufhören, die Luft anzuhalten?
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Queens Blvd
Teen Fiction| Watty-Gewinner 2021 in YA | »Ich wünschte, du würdest aufhören, ständig die Luft anzuhalten, und wieder anfangen, dein Leben zu genießen.« Als Schulabbrecher hat der sechzehnjährige Rico andere Sorgen als Mathetests. Das schnelle Geld macht ihn zu...