Auch wenn er es geschafft hatte, ohne Zusammenbruch aus dieser Wohnung zu verschwinden, konnte er sich kaum über diesen kleinen Triumph freuen. Selbst im eher trüben Licht des Tages wurden die Kopfschmerzen stärker.
Der dumpfe allumfassende Druck beeinträchtigte sein Sehvermögen und das blitzartig auftretende Stechen ließ ihn auf den eigenen Beinen wanken. Er war sich sicher, dass sein Schädel bald explodieren würde, wenn er nicht einen ruhigen, dunklen Ort fand, an dem er sich verkriechen konnte.
Doch nachdem er seine Mutter so heillos enttäuscht hatte und nicht weniger tief von seinem angeblich besten Freund enttäuscht worden war, gab es für ihn keine Zuflucht mehr.
Hatte er noch gedacht, verprügelt worden zu sein, hätte ihn an sein Limit gebracht, erkannte er selbst in diesem Zustand noch, dass er nun wirklich am Ende war.
Er war allein.
Gefickt und allein.
Und während er mit aller Kraft versuchte, diese Tatsache auszublenden, hatte er keinen Blick mehr für seine Umgebung. Er stieß gegen Straßenschilder und Parkuhren, rempelte vorbeiziehende Menschen an, die er nicht einmal wirklich wahrnahm.
Er wusste nicht einmal, wo er war, aber er konnte weder anhalten noch zurückgehen. Also lief er weiter, so gut er konnte.
»Hey, pass doch auf!«
Dass er gerade in einen Typen hinein gerannt war, bei dem Versuch, einer Frau mit zwei Hunden auszuweichen, war auch so etwas, das sein Hirn normalerweise mit einer Entschuldigung abgegolten hätte.
Doch das war gerade viel mehr damit beschäftigt, die Änderung der Perspektive zu verarbeiten, die sein Sehnerv meldete. Die völlige Überforderung seines Nervensystems wurde mit erneutem Stechen in den Schläfen quittiert.
An irgendeiner Hauswand hielt er an. Er stützte sich vorsorglich ab, während er versuchte, den Schmerz mit etwas Gegendruck zu lindern. Als er an sich herab sah, stellte er außerdem fest, dass er nicht einmal seine Jacke trug.
Scheiße und gerade heute war es so verdammt kalt.
Aber Schuhe hatte er an. Keine Socken, aber immerhin Schuhe. Okay.
Er musste sich zusammenreißen, irgendwohin, wo er eine Weile verschnaufen konnte, um von dem Mist herunterzukommen. Dann würde er hoffentlich eine Lösung erkennen, die längst vor ihm lag. Ja, so musste es sein. Irgendwie.
Leider waren seine nächsten Schritte auch nicht sicherer als die vorherigen und so taumelte er erneut über den Gehweg, bedrohlich auf die Straße zu. Er hörte lautes Hupen und bösartige Rufe von Fremden und dann spürte er einen Ruck.
»Hey! Rico, was ... hey!«
Hey-Rico schreckte zurück, immer noch schwammig, aber überraschend sicher stand er plötzlich da. Und hob den verwirrten Blick in ein bekanntes Gesicht, das er nie wieder zu sehen gehofft hatte.
Die dunklen Brauen waren angestrengt über die braunen Augen gesenkt, die markanten Züge wirkten genauso streng wie der Typ war, denen sie gehörten. Und dem er erst vor kurzem einen fiesen Tackle zum Abschied gegeben hatte.
Marc. Oh nein ...
Nein, nicht schon wieder. Nicht auch noch jetzt.
»Um Himmelswillen, Rico, wie siehst du denn aus?«
Die Frage konnte er sich doch wohl selbst beantworten. Beschissen. Wie durchgekaut und ausgespuckt, genau so sah er aus und so fühlte er sich auch. Da brauchte er sicher keine Wertung von außen, schon gar nicht von ihm.
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Queens Blvd
Teen Fiction| Watty-Gewinner 2021 in YA | »Ich wünschte, du würdest aufhören, ständig die Luft anzuhalten, und wieder anfangen, dein Leben zu genießen.« Als Schulabbrecher hat der sechzehnjährige Rico andere Sorgen als Mathetests. Das schnelle Geld macht ihn zu...