26 | es freut mich

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"Es freut mich, dich wiederzusehen, Liz", beginnt Frau Siebert am Dienstagmorgen unsere Sitzung. Sie stellt zwei Teetassen, eine für mich und eine für sie, auf den kleinen Tisch zwischen uns und lässt sich auf ihrem Ledersessel nieder. Wie üblich die Ruhe in Person, richtet sie ihren Blazer zurecht und greift nach ihrem Notizblock, bevor sie spricht. "Ich war mir nach der letzten Sitzung nicht sicher, ob du wiederkommst."

"Das hätte mein Vater niemals zugelassen", witzele ich, dabei musste man mich heute gar nicht davon überzeugen herzukommen. Ich wollte sogar kommen.

Als ich am Morgen die Treppen herunterkam, vollständig bekleidet und mit einem Lächeln auf den Lippen, wäre mein Vater fast vom Stuhl gefallen. Ich war selbst überrascht, dass ich mich nach dem gestrigen Gespräch nicht absolut mies fühlte, schließlich hatte ich fest damit gerechnet, die nächsten Tage im Bett zu verbringen und meine Offenheit zu bereuen. Doch das tat ich nicht. Stattdessen wachte ich auf, duschte, zog mich an und ging hinunter zum Frühstück. Selbst Maries Anwesenheit hatte keinen Einfluss auf meine Stimmung. Als ich sie dann bat, mich zur Therapie zu fahren, waren wir beide von mir überrascht.

"Also, magst du mir erzählen, warum du heute nun doch hier bist?"

Ich schüttele die Erinnerungen an den ungewöhnlichen Morgen ab und sehe Frau Siebert an. "Um ehrlich zu sein, weiß ich das gar nicht so genau. Ich kann nicht sagen, was sich innerhalb der letzten Woche verändert hat, aber irgendwie ist alles klarer geworden, wissen Sie? So als hätte ich vorher alles durch einen Nebel gesehen, der sich jetzt aufgelöst hat."

Frau Siebert legt den Kopf schief. "Interessant. Und was siehst du, jetzt wo der Nebel weg ist, klarer?"

Gute Frage.

Ich schweige einen Moment und greife nach meiner Teetasse, bevor ich zögerlich antworte: "Meine Gefühle, schätze ich. Vorher hat es sich so angefühlt, als würde ich nur Schmerz empfinden oder nur Wut oder nur Verzweiflung. Ich konnte nicht mehrere Dinge gleichzeitig fühlen, weil ich so viel Angst hatte, dass sie mich überrennen würden. Dass ich unter ihnen zusammenbrechen würde. Aber jetzt ist das anders. All meine Gefühle liegen vor mir ausgebreitet und ich kann sie endlich verstehen. Weil ich sie sehe. Weil ich sie nicht unterdrücke. Ich weiß nicht, wie ich das erklären kann... Es ist fast so, als hätte ich endlich alle Puzzleteile und das ist überfordernd, weil es so viele sind, aber es ist auch beruhigend, weil ich jetzt immerhin sehen kann welches Bild ich puzzle." Ich runzle die Stirn und blicke auf meine Tasse hinunter. "Ergibt das überhaupt Sinn?"

"Und wie." Ich höre das zufriedene Psychologen-Lächeln praktisch aus Frau Sieberts Stimme heraus. "Für die meisten Menschen ist es leichter unangenehme Gefühle zu verdrängen und sich auf Anderes zu konzentrieren. Das ist ganz natürlich, aber es ist wichtig, diese Gefühle bald hervorzuholen und sich damit auseinanderzusetzen." Sie senkt den Blick und notiert sich etwas auf ihrem Block. "Mir gefällt deine Puzzlemetapher. Sie ist sehr anschaulich! Wenn du immerzu Gefühle vor dir selbst versteckst, wird es sich ewig so anfühlen, als würden dir Teile fehlen. Und ohne sie kann man nie das fertige Bild, das große Ganze, sehen. Man ist nie in der Lage, zu verstehen woher gewisse Gedanken und Handlungen kommen, wenn man ihre Ursprünge, die Gefühle, nicht kennt."

"Heißt das, jetzt wo ich meine Gefühle hervorgekramt habe und das große Ganze sehe, sind wir hier fertig?"

Frau Siebert lacht auf und schlägt amüsiert die Beine übereinander. "Oh nein, ich fürchte so schnell geht das nicht! Wir haben zwar die Puzzleteile, aber noch sind sie nicht zusammengesetzt."

"Wäre ja auch zu einfach." Ich seufze dramatisch und greife nach meiner Teetasse. Es ist die, die Frau Siebert bei unserer ersten Sitzung hatte. Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende. Ich finde den Spruch noch immer etwas prätentiös, doch die W0rte wollen wir nicht aus dem Kopf gehen. Mut steht am Anfang. Mut steht am Anfang. Mut steht am Anfang. Und wo zur Hölle soll ich den bitte auftreiben?

"Jetzt wo die Karten auf dem Tisch liegen, müssen wir einen Plan schmieden." Meine Psychologin setzt sich etwas auf, streicht ihren weinroten Blazer glatt und betrachtet mich mit schräg gelegtem Kopf. Ich sehe die Räder in ihrem Kopf rattern. "Also, wo meinst du sollen wir anfangen? Wo drückt der Schuh am meisten?"

"Sie stehen auf Metaphern, was?", necke ich. Teils weil ich ihre Angewohnheit lustig finde und teils um Zeit zu schinden.

"Das trifft den Nagel auf den Kopf", flötet sie, geht aber nicht weiter auf meinen Kommentar ein. Stattdessen schaut sie mich mit ihren grauen Augen nur erwartungsvoll an.

Mein Grinsen weicht einem Stirnrunzeln, als ich über Frau Sieberts Frage nachdenke. Wo drückt der Schuh denn? Was belastet mich am meisten? Die Sache mit Emil habe ich bereits, mehr oder weniger, geklärt. Zwar haben wir seit unserem Gespräch nicht mehr gesprochen, doch ich habe keine Steine im Bauch, wenn ich an ihn denke. Um Papa tapse ich noch immer auf Zehenspitzen und früher oder später muss ich mich sicher mit ihm auseinandersetzen, doch seit Leo Zuhause ist, laufen die Dinge mit ihm eigentlich ganz gut. Holprig, aber sie laufen. Anders, als bei...

"Henri."

"Dein bester Freund?", hakt Frau Siebert mit einem Stirnrunzeln nach. Ich nicke und reibe mit dem Daumen über den Schriftzug auf meiner Tasse.

Ich habe wenig mit ihr über Henri gesprochen, besonders nicht über die Dinge, die in der letzten Zeit passiert sind. Kurz zögere ich, will das Thema wechseln, doch dann reiße ich mich zusammen und erkläre hastig: "Das letzte Mal, dass wir geredet haben, verlief nicht sonderlich gut. Schrecklich, um ehrlich zu sein. Wir haben einander ein paar ziemlich unfaire Dinge vorgeworfen."

"Magst du mir erzählen, was genau passiert ist?"

"Wir haben uns gestritten", beginne ich und senke den Blick auf meinen Schoß. "Ziemlich heftig. Henri hat mir vorgeworfen ihn anzulügen und ich habe ihm vorgeworfen mich allein gelassen zu haben. Er hat geschrien, ich habe geschrien und am Ende habe ich ihn rausgeschmissen."

Allein die Erinnerung an unseren Streit bringt mich dazu, die Zähne zusammen zu beißen um die Tränen, die sich in meinen Augen sammeln, zu verdrängen. Verdammt.

Frau Siebert schweigt einen Moment lang. "Stimmt es denn? Hast du deinen Freund angelogen?"

"Nein!", rufe ich empört und korrigiere mich dann rasch selbst. "Also, nicht wirklich. Ich meine, ich habe nicht immer die Wahrheit gesagt, aber gelogen habe ich auch nicht. Meistens habe ich einfach gar nichts gesagt." Unbehaglich rutsche ich auf meinem Platz herum.

"Und warum nicht?", fragt Frau Siebert mit ruhiger Stimme und blickt mich ehrlich interessiert an.

Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.

"Ich dachte nicht, dass er es versteht", gestehe ich zögerlich. "Ich meine, ich setze mich seit Jahren mit meinem Scheiß auseinander und bin den Großteil der Zeit gnadenlos überfordert. Wie sollte dann bitte Henri damit klarkommen? Der sanftmütige Henri, mit der perfekten Familie und dem perfekten Leben, der noch keinen Tag seines Lebens wirklich gelitten hat. Er wäre nicht nur überfordert, er wäre verloren. Das kann ich ihm nicht antun."

Es schmerzt diese Worte auszusprechen, doch Frau Sieberts verständnisvolles Lächeln nimmt etwas von der Schwere vom meinem Herzen.

"Aber meinst du nicht, dass es vielleicht noch schlimmer ist, gar nicht zu wissen, was mit dir los ist? Für die meisten Menschen ist stechende Unwissenheit schmerzhafter als gnadenlose Wahrheit. Dein Freund mag es vielleicht nicht völlig verstehen, aber immerhin wüsste er dann, nach welchen Zeichen er Ausschau halten kann. Was er sagen oder vielleicht auch nicht sagen soll, um dir Trost zu spenden. So sehr wie du dir wünschst, dass er dich nicht verlässt, wünscht er sich, dass du dich ihm öffnest. Für mich klingt das, als würdet ihr beide bekommen, was ihr wollt."

Sie hat Recht, denke ich. Verdammt, Frau Siebert hat mal wieder Recht.

Aber kann ich Henri wirklich erzählen wie es mir geht? Kann ich wirklich meine innersten Gefühle mit ihm teilen? Ich senke den Blick und lese den dämlichen Spruch auf meiner Tasse. Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.

Vielleicht wird Henri völlig überfordert sein, wenn ich ihm beschreibe, was in meinem Inneren vorgeht. Welche Gedanken mich nachts wach halten und welche Dämonen ich bekämpfe. Vielleicht wird er zurückschrecken. Vielleicht wird er das Weite suchen.

Aber vielleicht wird er das nicht.

Vielleicht werde ich wirklich belohnt, wenn ich mutig bin.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 30, 2020 ⏰

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