5 | ich höre sein schreien bevor ich ihn sehe

86 25 10
                                    


Ich höre sein Schreien bevor ich ihn sehe. Ich habe noch nicht einmal den Schlüssel vollständig im Schloss gedreht, da wird die Tür auch schon aufgerissen und mein Vater blickt mir wutschnaubend entgegen. "Was fällt dir eigentlich ein, einfach so rauszustürmen und dann eine Ewigkeit später hier aufzutauchen als wäre nichts? Junge Dame, was hast du dir denn dabei gedacht?"

"Ich war nur mit Benny Gassi.", gebe ich matt zurück, ziehe die Schuhe aus und schiebe mich an ihm vorbei durch den Flur.

"Das dauert aber keine zwei Stunden." Energischen Schrittes stampft er mir hinterher und hält mich zurück, als ich gerade nach dem Treppengeländer greife. "Hast du eine Ahnung was für Sorgen wir uns gemacht haben? Wir wussten nicht wo du bist, was du machst oder wann du wiederkommst. So etwas ist einfach un-"

"Ich war nur spazieren und hab das Zeitgefühl verloren. Entspann dich!", zische ich den Mann vor mir an und ignoriere bewusst seine dreiste Verwendung von "Wir". Seine Spielgefährtin hat kein Recht sich um meine Sicherheit zu sorgen, ich kenne sie ja nicht mal, und eigentlich hat auch mein Vater nicht gerade die besten Vorraussetzungen um jetzt einen auf fürsorglich zu machen. All das hat ihn früher herzlich wenig gestört. Ich hätte tagelang wegbleiben können, ohne dass es ihm aufgefallen wäre - ich bin tagelang weggeblieben, ohne dass es ihm auffiel.

"Liz, dir hätte sonst was passieren können! Du kannst nicht einfach verschwinden ohne dich zu melden, das geht so nicht. Hörst du mir überhaupt zu?"

Entnervt schnaubend verdrehe ich die Augen, reiße mich los und stürme die Treppen hoch. Er ruft mir hinterher, macht sich aber nicht die Mühe mir hinterherzulaufen. Gut so.

Lautstark schmeiße ich meine Zimmertür hinter mir ins Schloss und muss unweigerlich an meine Unterhaltung mit Henri denken. Sollen die verdammten Türen doch unter meiner Wut leiden, wenn ich sie allen anderen schon erspare.

Ich schlüpfe aus meiner blauen Jeans und in bequeme Leggings, bevor ich die schweren Vorhänge an meinem Fenster zuziehe und unter die trostspendende Decke meines Bettes schlüpfe.

Mit aller Kraft versuche ich die Gedanken und Eindrücke des Tages aus meinem Kopf zu verbannen, doch sie strömen unnachgiebig auf mich ein.

Henri hat eine Freundin. Und nicht nur irgendeine, sondern Lara. Lara, die hübsch und beliebt ist und sich mit all seinen Freunden versteht. Ich sollte mich für ihn freuen. Wirklich. Ich weiß, dass Henri schon länger ein Auge auf die hübsche Brünette geworfen hatte. Sie passen gut zusammen. Warum kommt mir also die Galle hoch, wenn ich mir die beiden zusammen vorstelle?

Mit einem Mal wird mir meine Einsamkeit schmerzlich bewusst. Der Raum um mich herum wirkt kleiner und dunkler als noch kurz zuvor und meine Gedanken rasen. Allen Menschen, von denen ich dachte mein Schicksal würde sie treffen, geht es besser denn je. Sie haben jemanden gefunden, mit dem sie mich ersetzen können, jemanden um dessen Leben sie sich nicht sorgen müssen, wenn sie ihn aus den Augen lassen. Jemand besseren.

Meine Brust zieht sich schmerzlich zusammen und das Atmen fällt mir jeden Moment schwerer. Ich lege mich auf die Seite, ziehe die Beine an den Körper und presse eine Hand auf mein erschöpftes Herz. Ein unregelmäßige Klopfen pulsiert durch meine heißen Adern und kurz darauf höre ich das Pulsieren auch in meinem Kopf. Es ist viel zu laut. Meine Hände beginnen zu zittern und ich spüre wie mir plötzlich der Schweiß ausbricht. Hektisch fahre ich mir durch die Haare, reiße an ihnen und ringe verzweifelt nach Atem. Nein, nein, nein.

Es bringt nichts. Mein Herz will sich nicht beruhigen. Das Pulsieren wird immer schneller und mein Körper zittert immer heftiger. Dass mir heiße Tränen über die Wangen laufen, bemerke ich kaum. Ich trete um mich, versuche irgendwie Halt zu finden, doch nichts hilft.

NevermindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt