Die Wände starren mich vorwurfsvoll an. Einheitlich, angepasst und in perfekter Symmetrie stehen sie da und scheinen mich mit Blicken zu löchern, was dazu führt, dass sich die Haare auf meinen Armen aufstellen. Energisch reibe ich mir darüber und sage mir selbst was für einen Unsinn ich da von mir gebe. Starrende Wände! Wenn das mein Psychologe hört...Die ungewohnte, mir sonst so liebe, Stille überrascht mich und ich erwarte fast eine Tür auf dem Flur zuschlagen zu hören, bis ich mir in Erinnerung rufe, dass es Mittagszeit ist und außer mir alle im Speisesaal versammelt sind.
Ein letztes Mal lasse ich meinen Blick schweifen und nehme jeden mir schon längst vertrauten Winkel des Zimmers in mich auf.
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass in den letzten Monaten zwei sehr verschiedene Menschen diesen Raum bewohnt haben. Auf der einen Seite steht ein Bett, das über und über mit Kleidung in jeglichen Farben bedeckt ist, während das auf der anderen Seite nur eine graue, ordentlich gefaltete Decke ziert. Auf dem einen Nachttisch liegt ein Haufen Illustrierter und ein gerahmtes Familienfoto, auf dem daneben gestapelt ein Notenheft, ein zerlesener Dystopie-Roman und eine Sammlung Kohlestifte.
Dr. Schuster, der mich betreuende Psychologe, nennt meine akribische Ordnung "Zwangsneurose", ich nenne sie Protest. Ein Protest dagegen diesen Ort als Zuhause zu betiteln oder auch nur den geringsten Aufwand zu betreiben um mich hier wohl zu fühlen.
Würde er das explosionsartige Chaos sehen, das mein Zimmer Zuhause ist, müsste er wohl nicht nur an seiner Diagnose, sondern auch an seinem Doktortitel zweifeln.
Mein Name wird in einer Lautstärke, die mich aus meiner Blase der Gedanken reißt, aus dem Flur gerufen und bringt mich dazu erst zusammenzuzucken und dann rasch nach meiner Reisetasche zu greifen. Hastig stopfe ich meine übrigen Habseligkeiten hinein und zögere einen Moment, bevor ich aus einem Instinkt heraus die Decke meines Bettes zerknittere.
In der stillen Hoffnung nie wieder an diesen Ort zurückzukehren, nehme ich die Tasche in die eine und meinen Gitarrenkoffer in die andere Hand, bevor ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen lasse.
Das Blut rauscht in meinen Ohren, als ich den Flur entlang gehe. Julian, einer der Betreuer, steht am anderen Ende und macht mir mit einer Kopfbewegung klar, dass ich mich beeilen soll, was angesichts meiner momentanen Situation nicht hätte nötig sein sollen. Aus irgendeinem Grund scheinen meine Beine allerdings tonnenschwer und ich muss mich zusammenreißen um dem Verlangen Stehenzubleiben nicht nachzugeben. Julian verschwindet durch die Tür und lässt mich allein zurück. Auf einmal kommt mir der Gang schmerzlich lang vor.
Ein und Aus. Ein und Aus. Ein und Aus.
Die Glastür, die den Wohntrakt von der Eingangshalle trennt, quietscht ein bisschen, als ich sie aufdrücke und mich suchend nach meinem Vater umblicke. Er sitzt auf einem der hinteren Stühle und tippt auf seinem Smartphone herum und, als hätte er meinen Blick gespürt, hebt er den Kopf, sieht mich an und lächelt breit.
Er sieht gut aus für Anfang fünfzig. Das dunkle Haar hat er ordentlich gekämmt, sodass es sich nur an den Enden lockt, die warmen Augen strahlen und kleine Lachfältchen zupfen an seinen Mundwinkeln.
Es ist eine erfrischende Abwechslung ihn so glücklich zusehen. An den wenigen Tagen, an denen er mich während meines Aufenthalts besuchen kam, sah er müde und abgekämpft aus, was mir regelmäßig Bauchschmerzen bereitete. Er schob es immer auf die Arbeit, doch mir war klar, dass seine Patienten im Krankenhaus nicht der Grund für seine Sorgenfalten waren. Das war ich.
Das Lächeln, das er mir nun schenkt, ist so aufrichtig und wahrhaft glücklich, dass es mir für einen Augenblick den Atem raubt.
Ich erinnere mich nicht an das letzte Mal, dass ich so gelächelt habe.
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Nevermind
Teen FictionLiz hat es getan. Sie hat versucht sich das Leben zu nehmen und ist gescheitert. Als sie Monate später aus der Klinik entlassen wird, muss sie sich von heut auf morgen ihrem Leben und den damit verbundenen Problemen stellen. Zu ihnen gehören auch H...