18 | den rest der woche

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Den Rest der Woche verbringe ich damit, mein Zimmer langsam aber sicher in völligem Chaos versinken zu lassen. Der Boden ist unter den Klamotten schon lange nicht mehr zu erkennen, doch nun gesellen sich auch noch dutzende Notenblätter und Hefte dazu.

Meine erneut aufgeflammte Leidenschaft fürs Gitarrespielen tut meiner Umgebung nicht gut.

In einem Anflug von Motivation spiele ich jedes meiner Lieblingslieder, nur um festzustellen, dass ich nicht mehr annähernd so gut bin, wie ich es einmal wahr. Dennoch, ich spiele und spiele bis meine Finger wund sind und Leo kurz vor einem Wutanfall steht. Hämmernd steht er abends in meiner Tür und regt sich schrecklich über die Lautstärke auf, doch ich sehe, dass er sich innerlich freut, mich mit meiner Gitarre in den Händen auf dem Fußboden sitzend vorzufinden.

Auch mein Vater wirkt glücklich, als ich am Wochenende beim Frühstück von meinen Fortschritten berichte. Ich stopfe mein Müsli ungeduldig in mich hinein und kann es kaum erwarten, wieder in mein Zimmer zu stürmen um weiter zu üben.

Am Nachmittag lege ich eine Pause ein und geselle mich zu Leo raus in den Garten. Die Sonne scheint und ich bewundere die Lichtreflektionen, die das Wasser im Pool zum Glitzern bringen. Gierig nehme ich einen Schluck meiner Cola.

"Wie geht es eigentlich Henri?", fragt Leo und wirft einen Blick auf das Nachbargrundstück. Das Haus Jakobs wirkt ruhig und sieht genauso friedlich aus wie das Unsere. Von außen lässt sich kein Unterschied zwischen ihnen erkennen. "Ich habe den Jungen ewig nicht gesehen."

Ich zucke mit den Schultern. "Ziemlich gut schätze ich. Er hat jetzt eine Freundin." Sofort bereue ich es, diese Information preisgegeben zu haben.

"Ach was?", bemerkt Leo sofort und schaut mich mit einem übertrieben unschuldigen Blick an. "Und das stört dich nicht?"

"Nein, Leo", antworte ich in einem Ton, in dem man normalerweise nur mit Kindern spricht. Manchmal ist mein Bruder eben genau das. "Es stört mich nicht, dass Henri eine Freundin hat."

"Sicher?" Es folgt ein böser Blick meinerseits. Defensiv hebt er beide Hände. "Okay, okay, ich frage ja nur. Wenn zwischen euch alles in Butter ist, dann kannst du ihn doch zu uns einladen! Ich hab den Jungen immer gemocht!"

"Hör auf  'der Junge' zu sagen! Du klingst wie ein Rentner, dabei bist du nur fünf Jahre älter als er." Ich schaue meinen Bruder gespielt böse an, um zu überspielen wie ungern ich Henri einladen möchte. Es ist ja nicht so, dass ich ihn nicht sehen möchte, nur habe ich Angst, dass es wieder unangenehm zwischen uns wird. Ich habe keine Lust auf bohrende Fragen und will sein sorgenvolles Gesicht nicht sehen, vor allem nicht jetzt, wo die letzten Tage so ungewohnt friedlich waren. Das würde nur alles ruinieren.

"Wie auch immer", winkt Leo ab. "Schreibst du ihm jetzt oder nicht?"

"Ich weiß nicht...", beginne ich, doch mein Bruder lässt mir gar keine Zeit um mir eine Lüge auszudenken.

"Also stört es dich doch, dass er eine Freundin hat!", ruft er und schaut mich triumphierend an. "Ich wusste immer schon, dass du in Henri verschossen bist."

"Ich bin nicht in Henri verschossen", protestiere ich lautstark. Wie kann er so etwas nur behaupten? Mag ja sein, dass ich eifersüchtig bin, aber das bin ich aus ganz anderen Gründen! Gereizt meine ich: "Erzähl doch keinen Müll! Schau, ich schreibe ihm ja schon!"

Hastig ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche. Ich ignoriere Leos selbstzufriedenes Grinsen und tippe stattdessen mit vor Nervosität leicht zitternden Fingern.

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Eine Viertelstunde später sitzen wir zu dritt auf dem Sofa. Henri bombardiert Leo mit Fragen zu seinem Studium und über Berlin, während ich wie das fünfte Rad am Wagen daneben sitze und die Beiden beobachte. Ihre Unterhaltung ist schrecklich langweilig.

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