Gewitter nur im Kopf?

Abflug

Jan

Ich hatte den Flughafen bereits einen Monat vor dem Abflug mit meiner Krankheit vorgewarnt. Darüber war ich sehr froh, denn kaum hatten wir das Gebäude betreten schrie ich auch schon:„Bombe", „Attentat" und „Wir fliegen ins World Trade Center rein." Die verängstigten und panischen Blicke der Menschen und der Fakt, dass mich jeder zu meiden schien, machte mir mittlerweile nichts aus. Ich blickte mich zu Tim um, denn er war ungewöhnlich still und schlurfte mir mit mehreren Metern Abstand hinterher. Ich wollte ihn schon fragen, ob alles in Ordnung sei, doch mir kam jemand mit dem Sprechen zuvor. „Heey Jungs da seid ihr ja endlich! Wir warten nur noch auf euch!" Rewi kam auf uns zugestürmt, packten uns an unseren Armen und zog uns schließlich in einem schnellen Tempo hinter sich her. Tim ließ sich das ganze ohne Widerspruch gefallen. Er sah mittlerweile aber auch aus wie eine wandelnde Leiche. Meinem Tourette gefiel das ganze jedoch überhaupt nicht denn Gisela brüllte: "Hilfe, ich werde entführt", und versuchte sich Rewi gewaltvoll zu entziehen. Die Leute um uns herum taten so als ob wir nicht existieren würden. Nur ab und an schaute ich in verstörte Gesichter bevor sie sich wieder angespannt auf den Boden konzentrierten. Mittlerweile waren wir bei den anderen Youtubern angekommen und ich begrüßte einen nach dem anderen. Mit „Hallo ihr Schlampen!", stellte sich natürlich auch Gisela vor. Nur Tim hatte sich gleich zu Beginn auf den Boden gesetzt, ohne jemanden zu begrüßen geschweige denn zu umarmen und blickte müde vor sich hin. Ich verdrehte nur die Augen und gesellte mich zu den Anderen.

Wir stiegen ins Flugzeug ein und suchten nach unseren Plätzen. Natürlich saßen Tim und ich nebeneinander, denn wir hatten eigentlich vorgehabt, den Aufenthalt am Flughafen und im Flugzeug mit zu filmen, um den Zuschauern die Auswirkungen meines Tourettes zu zeigen. Aber so wie Tim aussah, würde er nicht einmal die Kamera zum Laufen bekommen. Ich saß am Fenster und Tim direkt neben mir. Er hatte gestern vermutet, dass das Fenster und der Ausblick auf die kleinen Häuser und Felder mein Tourette etwas ablenken könnten. Doch im Gegenteil. Kaum waren wir in der Luft beginn ich wild umher zu fuchteln. Tim hatte ständig meine Hände vor seinem Gesicht oder meine Zähne in der Schulter. Am Anfang ignorierte er mich konstant, aber irgendwann reichte es ihm vermutlich, denn er riss seinen Kopf zu mir rüber und zischte. „Es reicht verdammte scheiße. Lass mich jetzt in Ruhe schlafen!" Er schaute mich mit rot unterlaufen Augen wütend an. Als er merkte wie schockiert ich von dieser Aussage war, entspannten sich seine Gesichtszüge etwas und er öffnete kurz seinen Mund, ließ es dann aber doch und drehte sich einfach nur schweigend weg von mir.

Tim

Bis kurz vor der Ankunft am Hotel hatten Jan und ich nicht mehr miteinander gesprochen. Ich war ausgerastet und hatte es kurz darauf wieder bereut. Noch nie hatte ich ihn wegen seiner Tics verurteilt oder war gar ausgerastet. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen, doch ich war mir sicher, dass ich davor noch einiges an Schlaf nachholen musste. Also folgte ich ihm schweigend durch die Eingangstür und wartete, bis er eingecheckt hatte. Als er sich wieder umdrehte, trafen sich unsere Blicke für einige Sekunden und ich konnte die Verletztheit darin erkennen. Ich war so ein Spast. Ich wusste ganz genau, wie sehr er unter seinen Tics litt und was negative Reaktionen für eine Auswirkung auf ihn hatten. Er schaute schnell wieder auf den Boden und ging wortlos an mir vorbei.

Als wir die gefühlt hundert Treppenstufen hinter uns gebracht hatten, musste ich mich kurz am Geländer festhalten, denn mir wurde abermals schwarz vor Augen. Jan war bereits in unserem Zimmer verschwunden, also trottete ich langsam hinterher. Er räumte bereits seine Sachen in den Schrank ein, wobei Gisela seine Klamotten quer durch das Zimmer warf. Ich steuerte sofort das Bett an, ließ mich in die frische Bettwäsche sinken, konnte Jan nur noch sagen: „Ihr könnt ohne mich essen...", und war sofort im Land der Träume.