𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏𝟕: 𝐒𝐨 𝐬𝐢𝐞𝐡𝐭 𝐦𝐚𝐧 𝐬𝐢𝐜𝐡 𝐰𝐢𝐞𝐝𝐞𝐫

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Es war ein Freitag, an dem ich den Erlhof zum nächsten Mal verliess. Der 17. Juli, um genau zu sein. Ein regnerischer Tag, an dem Wolken wie ein dunkler Mantel über die Berge gespannt waren, und kein bisschen Sonne zu sehen war. Der Regen hatte seit Anfang der Woche den trockenen, beinahe schon spröden Erdboden in ein tückisches Meer aus Matsch verwandelt. Es gab kein Entrinnen vor Schlamm und Wasser, nicht einmal im Haus, denn dort bespritzten Lenado und Aspen den alten Holzboden mit allem, was sie von draussen hereinschleppten.
An diesem Morgen sassen ein klitschnasser Urs, dessen mausbraunes Haar ihm platt am Schädel klebte, und eine seltsam schweigsame Fabienne neben mir und meiner Mutter am Frühstückstisch, die einzigen Geräusche waren die Hunde in der Küche, das Klingen von Löffeln, die gegen Porzellan schlugen, und das laute Trommeln des Regens auf das Dach. „Wir sollten die Pferde nachher geschwind gleich im Stall putzen. Für den Weg bis zu Ernst rüber müssen wir ihnen wohl Decken anlegen", murmelte Mama in ihre Kaffeetasse. Fabienne und ich nickten synchron, ohne dazu etwas zu sagen. Die Vorstellung, den ganzen Weg rüber zum Stall Beyeler durch dieses Wetter zu reiten, war alles andere als verlockend. Da wäre ich lieber zu Hause geblieben und hätte mich auf meiner Matratze zusammengerollt. Stephen King stand noch aus, der hätte gerade perfekt zu meiner Laune gepasst, die sich der Farbe des Himmels angepasst hatte - dunkelgrau. Aber Ernst Beyeler stellte den Mädels für die heutige Reitstunde seine Halle zur Verfügung, und Philipp hatte mich dazu überredet, mit Gambino reiten zu gehen, da Elin heute wegen ihrer Arbeit nicht reiten konnte. Hätte ich doch nur Nein gesagt.
Nach einer Weile stand Urs ächzend auf, drückte meiner Mutter einen Kuss auf den Scheitel und räumte dann sein Zeug rüber in die Küche. Er musste wieder raus in den Regen, um den Mist vom Paddock zu kratzen, der noch nicht zu Sosse geworden war. „Bis nachher, ihr drei!", verabschiedete er sich, bevor er zur Haustür stapfte, wo seine Gummistiefel auf ihn warteten. „Tschüss, Papi!", nuschelte Fabienne mit vollem Mund, meine Mutter funkelte sie warnend an. „Jedes Mal, junges Fräulein!", tadelte sie.
Wir verliessen das Haus wenig später in Reitkleidern und Regenjacken, mit wehenden Kapuzen über den Innenhof rennend. Im Stall erwartete uns, neben dem heute etwas weniger enthusiastischen Chor an wiehernden Gesichtern, Philipp, der schon alle Pferde rausgeholt und in der Gasse nebeneinander angebunden hatte, mit einem Grinsen. „Guten Morgen, ihr Schlafmützen!", neckte er uns drei und winkte mit einer Wurzelbürste. „Na hallo! Danke fürs Rausholen!", begrüsste Mama ihn, während dem ich und Fabienne eilig zu unseren Tieren rübergingen. „Gern geschehen. Die Hufe hab' ich auch schon bei allen gemacht, dann geht's etwas schneller", meinte er. Seine mandelförmigen Augen streiften mich, als ich mich zu Gambino durchschlängelte, und ich lächelte kurz. Dann wandte ich mich aber dem braunen Andalusier zu, der mich mit schlagendem Kopf anprustete. Ich fuhr ihm kurz über die samtige Nase und vereitelte genervt einen Versuch seinerseits, in meine Regenjacke zu beissen. Gleichzeitig linste ich über seinen Hals hinweg auf das feuchte, von Einstreu verklebte Fell an seinem Rücken, bei dessen Anblick ich aufstöhnte. „Wie wär's, wenn du dich bei diesem Wetter nicht wälzen würdest?", schimpfte ich kopfschüttelnd, wofür ich jedoch nur ein lautes Schnarchen bekam.
Philipp neben mir lachte. „Das ist gar nichts! Im Frühling darfst du ihm mal den Schlamm von den Beinen schälen." Ich sah den jungen Mann lustlos an und erwiderte: „Nein danke. Da stellst du dein Pferd besser gar nicht erst raus." Bei uns waren die Tiere nicht umsonst in Boxen gestanden. Weniger Scherereien. Zügig schaufelte ich die Einstreu von Gambinos braunem Rücken, bis die Stallgasse ganz davon bedeckt war. Als ich endlich dazu kam, seine lange, eingeflochtene Mähne von dem Zeug zu befreien, öffnete sich das Tor scharrend und drei tropfende Gestalten kamen ins Innere gehuscht. „Hey, Leute!", brummte Rahel, deren goldenes Haar in zwei riesigen Strähnen gegen ihre Schultern geklatscht war, wo es sich keinen Millimeter mehr bewegte, sondern klebte wie angeleimt. Ihre kleine Schwester Rebekka hatte ihren weissblonden Zopf in weiser Voraussicht in die Jacke gestopft und holte ihn jetzt mit missmutig verzerrtem Gesicht heraus. „Mann, ist das ein Huddelwetter!", beschwerte sie sich, die hohe Stimme triefend vor Ekel. Neben ihr schüttelte sich Giuanna wie ein Hund und blinzelte aus freudlos schimmernden Welpenaugen zu uns rüber.
„Wurdet ihr so verregnet?", fragte meine Mutter belustigt, während dem die drei Mädchen zu ihren Schulpferden rüberwuselten. Ich beobachtete, wie sie alle beim Vorbeigehen einen Blick nach hinten zu den Boxen warfen, wo unsere zehn Schützlinge friedlich ihr Heu mampften, zufrieden darüber, dass sie ganz sicher nicht rausgeholt werden würden. Nur Jeriga hatte sich hinaus in den Auslauf getraut und starrte jetzt sichtlich bereuend ins Leere, das struppige schwarze Fell klebte ihr am dürren Körper. Der Rest war geflissentlich drinnen geblieben, wo es trocken war.
„Nachher dürft ihr den ganzen Weg zum Beyeler reiten, das wird noch lustiger!", lachte Philipp uns aus, Douradas falbenes Fell sanft bürstend. Die zierliche Stute stand etwas abseits der andern und beäugte unsicher die Gruppe der Schulpferde, die, schicksalsergeben wie Soldaten vor einer Schlacht, zuliessen, dass wir sie fertig machten. Als ich Gambino wieder sauber bekommen hatte, beeilte ich mich, in die Sattelkammer zu kommen und den schwarzen Dressursattel mit der passenden Trense von den Ständern zu heben. Meine Augen schweiften für einen Moment über die verstaubte, zugedeckte Ausrüstung aus dem Gestüt Falknis, die in der Ecke des kleinen Raumes gestapelt war. Würden wir sie eines Tages benutzen? Wenn man die Schützlinge wieder reiten konnte? Oder würden wir sie an andere Leute weitergeben, bevor wir sie das erste Mal angefasst hatten?
Noch bevor ich mir weitere Gedanken dazu machen konnte, ob ich in meinem Aufenthalt hier, der nun nur noch etwas mehr als zwei Monate dauern würde, selbst noch die Gelegenheit bekommen würde, mit den geretteten Pferden zu arbeiten, beugte sich Philipp hinter mir hervor. Weil ich ihn nicht hatte kommen hören, fuhr ich unter einem erschrockenen Japsen zusammen und liess beinahe den Sattel fallen. „Oh je, sorry. Ich wollte dir nur die Schabracke rausholen, die andere hab' ich in die Wäsche getan", meinte der junge Mann abwehrend und hob mit einer entschuldigenden Geste die Hände. Mir gelang vorerst nur ein genervtes Knurren, während dem mir mein Herz immer noch bis hoch in den Hals schlug. „Tu das nie wieder!", warnte ich ihn und sah zu, wie er sich bückte, um den Sack mit den unzähligen Satteldecken hervorkramen zu können.
„Hier, nimm' die", wies er mich an, als hätte er meinen bösen Ton nicht gehört, und reichte mir ein marineblaues Eskadron-Exemplar. Grummelnd nahm ich es entgegen und schob es unter den Dressursattel, der langsam schwer zu werden begann. „Hast du sonst kein Leben, dass du deine Pferde mit so viel Schnickschnack eindecken kannst?", fragte ich schnippisch, Philipp wieder aus der Sattelkammer raus begleitend. Als ich meine Worte so hörte, wünschte ich sogleich, ich hätte sie nicht so gesagt, sondern etwas schöner umformuliert, aber der junge Mann schien sich nicht daran zu stören. Er zuckte lediglich mit den Schultern, warf mir ein Paar Hufglocken und Bandagen an und erwiderte, amüsiert darüber, wie ich mich bemühte, die Dinger nicht von der Sitzfläche des Sattels rutschen zu lassen, auf der sie gelandet waren: „Ne, nicht so wirklich. Brauch' ich auch nicht."
Ich überholte ihn, um die Ausrüstung schleunigst neben Gambino über das Tor des Offenstalls hängen zu können, liess mir aber nicht entgehen, abfällig zu glucksen. „Du studierst doch auch noch. Verdienst du überhaupt etwas, oder hast du irgendeinen reichen Sugar Daddy?" Wieder fiel Philipps Reaktion milder aus, als ich erwartet hatte, denn er zwinkerte mir schelmisch zu, während dem ich Gurtstrippen und Schabracke sortierte. „Vielleicht?", warf er in den Raum und lachte beim Anblick meines ebenso verdutzten wie neugierigen Gesichts. „Wie darf ich deine Antwort deuten?" Ich liess den jungen Mann nicht aus den Augen, während dem ich den Dressursattel auf Gambinos Rücken legte. Der braune Andalusier war ein Stück kleiner als ich, weshalb es eine Bewegung war, die ich erstaunlich problemlos nebenbei ausführen konnte. Aufmerksam auf Philipps Erklärung wartend, zurrte ich den Sattelgurt so fest wie es möglich war, denn sein Pferd blähte seinen sowieso eher wohlgeformten Bauch um ein Haar weiter auf, als die Löcher an den Strippen es zuliessen.
Der junge Mann rieb seine grossen, gepflegten Hände aneinander und meinte: „Mein Vater hat so viel Geld, dass ihm die Kosten für noch zwei Pferde nicht einmal auffallen würden." Eine Spur Selbstgefälligkeit schlich sich in das Zucken um seine Mundwinkel, die ich eigenartigerweise nach einem Moment des Stutzens intuitiv deuten konnte. Es war die Art von wohligem Stolz, die ich von meinem Vater in die Wiege gelegt bekommen hatte. Es war das Wissen darüber, wie gut es doch tat, reich zu sein und nur ein Wort sagen zu müssen, um alle Wünsche erfüllt zu bekommen. „Firmenbesitzer?", riet ich, während dem ich die Steigbügel sechs Loch kürzer schnallte. Philipp schüttelte den Kopf und hängte sich ein Knotenhalfter über die breite Schulter. „Ne, leitender Neurologe im Spital Bülach. Da scheffeln sie einem aber auch ordentlich was in die Taschen."
Ich nickte stumm, mich zu Gambinos Vorderbeinen runterbeugend, um sie zu bandagieren. Meine Finger verweilten eine Sekunde lang auf dem weissen Kronrand, der den linken Huf des Braunen wie ein Diadem zierte, bevor ich mich daran machte, die blauen Bandagen um seine Röhrbeine zu wickeln, wobei ich mich zugegebenermassen etwas dumm anstellte. Ich hatte vielleicht ein Talent fürs Anlegen von Gamaschen jeglicher Art, aber Bandagieren gehörte nicht zu meinem Repertoire an koordinativen Fähigkeiten. Um zu signalisieren, dass unser Gespräch zu Ende war, tat ich allerdings so beschäftigt wie möglich, damit Philipp nicht auf die Idee kam, mich nach meinem Vater zu fragen.

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