Es war ein wenig, als würde ich ein altes Kinderbuch voller nostalgischer Erinnerungen aufschlagen, als ich meine Fersen in den kurzgeschnallten Steigbügeln von Droghedas Springsattel nach unten drückte und die Zügel der weissen Stute aufnahm. Das Gefühl von kindlicher Freude durchflutete mich und ich genoss es einen Moment lang einfach nur dazusitzen, das weiche Knarzen des Leders zu hören und zu spüren, wie ein schmales aber zweifellos stählernes Muskelpaket unter mir atmete. Ohne das Grinsen auf meinen Lippen kontrollieren zu können, spannte ich meine Waden an, und Drogheda setzte sich in Bewegung.
„Und, wie fühlst du dich?", fragte Carlos mich von der Hallenmitte aus, während dem ich seinen Fliegenschimmel auf den äusseren Hufschlag rüberritt. Strahlend sah ich zu ihm rüber, mein Becken mit der fleissigen Bewegung des Pferdes mitschwingen lassend, und streifte kurz mit dem Blick die bunten Hindernisse, die in der Halle aufgebaut waren. Kreuze und kleine Oxer, nichts, was ich früher nicht im Schlaf hätte springen können, aber dennoch – selbst diese weckten in mir vorfreudiges Kribbeln. „Super! Aber das fragst du jetzt nicht alle fünf Minuten, oder?", erwiderte ich lachend. Drogheda marschierte zügig die lange Seite der Bahn entlang und kaute bereits eifrig auf ihrem Gebiss herum. Vielleicht etwas übereifrig, aber mit übereifrigen Pferden kannte ich mich aus. Tolstoi, der hübsche Apfelschimmel, den ich mehr als ein Jahr von Marcus Ehning geliehen hatte, war auch immer etwas zu sehr bei der Sache gewesen. Solche Tiere waren mir von Grund auf lieber, denn sie gaben mir viel eher das Gefühl, meine Sache gut zu machen auf ihrem Rücken.
Ohne ihr in die Augen zu sehen, wusste ich, dass die zierliche Stute unter mir mehr als motiviert war; ich hörte es aus dem Klang ihres Schnaubens heraus und spürte es in ihrem rhythmischen Abfussen. Um sie zu lösen, liess ich Drogheda einige kleine Volten machen und lotste sie in Schlangenlinien zwischen den Hindernissen durch, dann trabte ich sie an und liess sie sich ein wenig strecken, bevor ich dasselbe auch in dieser Gangart wiederholte. Carlos sah mir dabei grösstenteils schweigend zu, nur hin und wieder bemerkte er eine Kleinigkeit oder machte mich auf etwas aufmerksam. Er kannte sein Pferd immer noch besser als ich und wusste folglich, welche Tricks und Kniffe ich anwenden musste, um sie ordentlich an den Zügel oder geschmeidiger in die Biegung zu bekommen.
Bald lief die weisse Stute wie Butter unter mir und reagierte auf die feinsten Signale. „Sie ist ein echter Traum!", schwärmte ich, nachdem ich sie auf beide Hände rasch warmgaloppiert hatte und ihr jetzt den Zügel für eine kurze Streckpause hingab, bevor es an die Springarbeit ging. Auf Carlos' gut gebräuntem Gesicht erschien ein stolzes Lächeln und er entgegnete: „Ja, oder? Mein kleines Einhorn ist ein echtes Goldstück!" Sein Lächeln blieb bestehen, als ich Droghedas Zügel wieder aufnahm und sie zurück auf die erste Spur lenkte. Meines jedoch verblasste kurz, als mein Blick auf Elin fiel, die gerade mit missmutigem Ausdruck an der Bande vorbeiging. Einen Moment lang verkeilten sich unsere Augen ineinander wie die Geweihe zweier kämpfender Hirsche, keiner wollte den andern loslassen, aber schon ein paar Sekunden später wandten wir uns beide wieder ab. So, wie ich das mitbekommen hatte, war ihr vorhin, eine bereits fertig gesattelte Kalany am Zügel, mitgeteilt worden, dass Ernst Beyeler heute nicht da war und ihre Reitstunde deshalb ausfallen musste. Sehr wahrscheinlich hatte das nicht zur Besserung ihrer Laune beigetragen, was ein weiterer Grund war, ihr heute aus dem Weg zu gehen. Der Hauptgrund jedoch galoppierte in der Sekunde makellos unter mir an.
„Gut, dann kannst du noch ein bisschen mit ihr springen. Am Anfang macht ihr am besten mal ein paar der kleineren Sprünge, damit sie ein wenig reinkommt", wies Carlos mich an, auf die Kreuze und tiefen Oxer deutend, die er linientechnisch äusserst grosszügig quer zu den langen Banden und auf den Diagonalen aufgestellt hatte. Kinderspiel. Dass Drogheda keineswegs „reinkommen" musste, sondern längst drin war, bewies sie uns schon beim ersten Hindernis deutlich: Sorgfältig richtete ich die Schimmelstute auf das Kreuz bei E, setzte mich tief in den Sattel und drückte die Fersen ein letztes Mal nach unten, woraufhin sie augenblicklich beschleunigte und den Kopf hochnahm. Zwar musste ich sie rechtzeitig abspielen, bevor sie zu viel Zug entwickelte, aber schlussendlich kamen wir souverän über den Sprung – in einem schönen Bogen setzte sie über die bunten Stangen hinweg und landete ohne Sperenzien auf der andern Seite wieder. Carlos klatschte. „Super, sehr schön! Probier' das dort drüben doch auch gleich noch!" Mit einem knappen Lachen tat ich sein Lob ab und führte Drogheda gleich zum nächsten Hindernis, ihren Rücken in der Kurve im leichten Sitz etwas entlastend. Auf der Geraden zu dem doch recht mickrigen Oxer setzte ich mich wieder hin und hielt diesmal die Zügel gut fest, um nicht noch einmal von ihrem Schwung überrascht zu werden. Diesmal kamen wir noch etwas ruhiger hin, was mich dazu veranlasste, der Stute kurz den weissen Hals zu klopfen. Da hatte Tolstoi sich unbestreitbar viel schlimmer angestellt.
„Ich weiss ja nicht, wie's aussieht, aber anfühlen tut sie sich himmlisch! Würdest du nicht denken, dass sie noch nicht so viel Erfahrung hat", schwärmte ich und lenkte Drogheda auf eine grosszügige Volte, damit sie keine Gelegenheit bekam, sich zu sehr aufzuheizen. Sie brummte zufrieden unter mir und liess den Kopf nach einer halben Runde wieder entspannt fallen. „Nein, sieht wirklich gut aus. Ihr harmonisiert bewegungstechnisch noch nicht ganz, aber das kommt auch nicht gleich beim ersten Mal", bewertete Carlos ehrlich. Er setzte ein etwas ernsthafteres Gesicht auf und verschränkte die Arme vor der in einem schlabberigen Pullover steckenden Brust.
In meinem Hals begann etwas zu kitzeln. „Beim ersten Mal? Das klingt fast so, als dürfte ich hoffen!" Ich kam nicht umhin, ein nervöses Grinsen aufzusetzen. Wenn er es so sagte, dann durfte ich doch tatsächlich etwas Hoffnung hegen, heute nicht das letzte Mal auf Drogheda gesessen zu sein. Der Gedanke daran, hier vielleicht eine neue Möglichkeit zum Springen gefunden zu haben, verlockte mich zu neuem Mut. Vom Gestüt Pignatelli war nichts mehr übrig, dort konnte ich mir nichts mehr aufbauen – und wollte es offen gestanden auch nicht. Unsere zehn Schützlinge würden bald weiterziehen, auch wenn ich es nicht so recht wahrhaben wollte. Schlussendlich war der Stall Beyeler mein einziger Ausweg, wenn ich wirklich wieder in den Springsport zurück wollte. Carlos war mein einziger Ausweg. Vorerst.
Den Rest der Stunde arbeitete ich mich mit Drogheda bis zu einem kleinen Parcours vor, den die Schimmelstute etwas zu hibbelig, aber dennoch souverän überflog. Mit einem Strahlen im Gesicht führte ich sie am Ende wieder zurück in den Stall und vergass sogar, mich darüber aufzuregen, dass Elin nicht auf mich gewartet hatte, denn von ihr war weit und breit keine Spur mehr.
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Erlkönig
Подростковая литератураAus dieser Nacht, die mich umhüllt, von Pol zu Pol schwarz wie das Grab, dank' ich welch' immer Gottes Bild die unbezwung'ne Seel' mir gab. Ein Leben lang sah es so aus, als stünden Sereina Pignatelli alle Türen offen, denn wer Talent, Ehrgeiz und D...