Der Aufschlag auf dem Sand tat nicht einmal weh. Nur einen Augenblick lang spürte ich das weiche Material unter meinem Rücken, dann richtete ich mich schon wie von selbst wieder auf. „Dieses Arschloch!", verfluchte ich leise Gambino, während dem ich nach meinem Knie sah, das zugegebenermassen ziemlich fies stach. Ich spürte förmlich, wie sich ein gigantischer blauer Fleck zu bilden begann. Und dieser Vollhonk von einem Pferd trabte fröhlich weiter herum, als wäre das alles hier verdammt lustig.
„Hey, alles in Ordnung?", hörte ich jemanden fragen, übel gelaunt drehte ich den Kopf und erblickte Carlos, der neben mir von seinem Pferd abstieg. „Ja, alles bestens", knurrte ich, mehr genervt darüber, dass er mir aufhelfen wollte, als darüber dass die ganze Halle meinen peinlichen Sturz gesehen hatte. Meine Mutter hingegen wusste es besser, als zu mir rüberzueilen, wie es ihr Instinkt von ihr verlangen würde. Sie wusste, dass ich keine Hilfe und keine besorgten Fragen wollte, solange ich noch selbst aufstehen konnte, und schien sich immer noch daran zu erinnern, denn sie kam nicht rüber, nur den Schreck in ihren Zügen konnte sie nicht verstecken. Trotzdem liess ich zu, dass Carlos meinen Arm ergriff und mich hochzog. Durch mein Knie zuckte gleissender Schmerz, was ich aber grimmig ignorierte und stattdessen zu Miranda rüberhinkte, der es gerade gelungen war, Gambinos Zügel zu ergreifen. Jetzt schnaufte der Andalusier kopfschüttelnd, ohne ein Anzeichen von Reue darüber, mich aus dem Sattel befördert zu haben.
„Tut mir leid, Sereina, sie ist mir einfach so davongerannt! Normalerweise lässt sie sich bremsen", beteuerte Rebekka schwer atmend. Ihr war es mittlerweile wieder gelungen, Shaja unter Kontrolle zu bringen und in sicherer Entfernung anzuhalten, aber die Araberstute schien immer noch ein geladenes Pulverfass zu sein - ihre kleinen Nüstern waren gebläht, ihr Schweif hoch erhoben, und ihre Flanke bebte vor Aufregung. Folglich war das ohnehin blasse Gesicht des Mädchens nun kreideweiss, nur auf ihren Wangen prangten zwei hochrote Flecken und sie umklammerte die Zügel wie zwei Rettungsleinen. „Schon gut, ist nicht deine Schuld", erwiderte ich knapp. War es wirklich nicht, sie konnte nichts dafür, dass meine Mutter sie auf eine kleine weisse Kanone gesetzt hatte. Und wir konnten froh sein, dass nur Gambino sich von Shaja hatte anstecken lassen.
Auf einmal fühlte ich mich schrecklich beobachtet, denn alle Blicke waren auf mich gerichtet. „Marsch der Schande", dachte ich mir und humpelte über den Sand, einen Fuss vor den andern, bis ich bei Miranda angekommen war. Das dankbare Lächeln ersparte ich mir, stattdessen packte ich einfach nur Gambinos Zügel und zerrte den immer noch unruhigen Wallach zu einem ruhigen Teil der Halle, um noch einmal aufzusteigen. Ich musste ihm zeigen, wer hier der Boss war. Wenn ich ihn jetzt einfach rausbrachte, liess ich ihm den Scheiss durchgehen und hatte für immer verloren. Wenn nötig würde ich ihn mit gestrafften Zügel fertigreiten.
„Willst du sicher wieder hoch? Du hinkst ziemlich...", gab Carlos zu bedenken und folgte mir zögerlich, doch ich ignorierte ihn. Konnte ihm doch egal sein. Schweigend parkierte ich Gambino mit harter Hand in der Mitte des oberen Zirkels und zog mich zurück in den Sattel. Mein Knie pochte unangenehm und augenblicklich wünschte ich mir, ich hätte die Steigbügel wenigstens einmal länger geschnallt. Dennoch drückte ich meine Fersen zähneknirschend in den Bügeln runter und befahl dem Andalusier unter mir, in den Schritt zu gehen. Unwillig ruckte er mit dem Kopf gegen den unbarmherzigen Zug, den ich am Gebiss hatte, doch ich gab nicht nach. Da war er selbst schuld.
Nach ein paar Sekunden war Carlos, erneut aufgestiegen, wieder neben mir und sah mich stirnrunzelnd an. „Ist wirklich alles okay? Das hat ganz schön geknallt vorhin", murmelte er. Mein Blick schwang warnend zu ihm herum. „Ich sagte doch, alles bestens." Ohne darauf zu achten, dass Carlos' Pferd direkt neben mir herlief, galoppierte ich Gambino an, die Zügel so fest in der Hand haltend, dass ein weiteres Durchgehen für den Andalusier unmöglich war.Nach etwa einer Viertelstunde liess ich es gut sein und parierte Gambino zum Schritt durch. Er schien gemerkt zu haben, dass er mich sehr wütend gemacht hatte, denn er hatte sich alle Mühe gegeben, nicht noch einmal negativ aufzufallen. Jetzt, wo ich ihm den Zügel etwas hingab, streckte er sich, die Zunge auf einer Seite aus dem Maul hängen lassend, und brummte leise. „Geht doch", murmelte ich. Schliesslich befreite ich mein sich mittlerweile steif anfühlendes rechtes Bein aus dem Steigbügel, rutschte aus dem andern hinaus und schwang mich in Bauchlage über den Sattel. Eins, zwei, drei. Ich atmete tief ein und liess mich dann so langsam wie möglich runtergleiten, nichtsdestotrotz holte ich scharf Luft, als mein Knie beim Aufkommen auf dem Sand lauthals protestierte und seitwärts leicht wegsackte, sodass ich mich einen Augenblick länger als nötig an Gambino festhielt. Mich nach meiner Mutter umdrehend, die ihre Reitschüler gerade einzeln galoppieren liess, während dem sie verstohlen zu mir rübersah, nahm ich mich aber zusammen und straffte ich mich, liess auch den Sattel los. „Gerader Rücken, principessa! Zeig nie irgendjemandem deine Schwäche!", hörte ich die Stimme meines Vater so täuschend echt, dass ich kurz glaubte, er stünde direkt hinter mir.
Wie um mir selbst zu beweisen, dass es mir egal war, biss ich die Zähne zusammen, nahm Gambinos Zügel und lief möglichst unbeeindruckt in Richtung Ausgang, den Kopf gesenkt. Mit den Augen folgte ich nur den Unebenheiten im weichen Sand, damit ich ihnen ausweichen konnte. Hügel, Loch, Loch, Hügel. Schneller als erwartet kam die Bande, und als ich dort angekommen war, schlug mir beinahe das sich unangekündigt öffnende Tor entgegen. Erschrocken stolperte ich zurück, wobei mein Knie seinem Dienst versagte und mich beinahe zurück auf den Boden beförderte. Mir entfuhr ein knappes Keuchen und Gambino quietschte verdattert.
„Wow, immer langsam, junge Dame!", warnte mich Ernst Beyelers Stimme. Ich sah hoch und blickte in sein freundliches Gesicht mit den gewinnenden Augen, die jetzt misstrauisch an mir runterfuhren. „Warst du das, die vorher so einen Lärm verursacht hat? Ich habe mir noch gedacht, da ist sicher jemand gestürzt...", meinte er, auf mein rechtes Bein deutend, wo an der Reithose noch immer ein wenig Sand hing. „Alles bestens, war halb so wild. Der Spinner ist nur durchgegangen", winkte ich tonlos und schulterzuckend ab. Aufs Stichwort schnaubte der braune Andalusier, sodass mein Arm sich auf einmal ganz feucht anfühlte. „Du solltest da Eis draufpacken, sonst schwillt es noch an. Ich hab jetzt gleich Training, aber Carlos und Miranda sind noch da hinten in der Stallgasse. Sag ihnen, sie sollen dir was holen", empfahl Ernst Beyeler mit gerunzelten Augenbrauen. Schon wollte ich zu einer weiteren Verdeutlichung ansetzen, dass es mir gut ging, da klopfte der grauhaarige Mann mir kräftig auf die Schulter und betrat die Halle. Der wissende Blick, der er mir über die in einem dunkelblauen Polohemd steckende Schulter zuwarf, liess keine Widerrede zu.
Ich stöhnte genervt, tat aber, wie mir geheissen. Bis meine Mutter mit der Reitstunde fertig war, wusste ich sowieso nicht, was ich noch tun sollte. Bei diesem Wetter war eine Besichtigung des Areals ausgeschlossen, und ich wollte nicht, dass mich jemand noch beim Schnüffeln erwischte. Also schlurfte ich nicht zum grossen Tor ins Freie, sondern schloss die Bande hinter mir und machte mich auf zur Stallgasse, die in den kleinen Vorraum mündete, in dem ich mich gerade befand. Sand dekorierte den mit Gummimatten rutschfest gemachten Boden, der weiter vorne in Beton überging. Ich führte Gambino am langen Zügel zu dem Gang, aus dem die Geräusche von Pferden und Gesprächsfetzen zu hören waren, mich über die zahlreichen, sich in den Dachbalken tummelnden Vögel wundernd, die immer wieder zirpend aufflogen, um auf dem nächsten zu landen.
„Nöchscht Wuche Concours in Schwyz...sött cool werdä", hörte ich von den Boxen zurückhallen. Eine Männerstimme, die ich nicht verstand. Dann ein helles Lachen, das nach Miranda klang. Ich bog um die Ecke und erblickte die junge Frau, die gerade ihrem fertig abgesattelten Pferd eine Möhre reichte. Ihr Gesicht war fröhlich Carlos zugewandt, der wiederum sein Pferd vor der Box angebunden hatte und ihm gerade den Springsattel vom Rücken hob. Als sie Gambinos Hufe klackern hörten, drehten sich beide zu mir um, ich blieb in gebührendem Abstand stehen. Mirandas Miene wurde etwas düsterer, die von Carlos etwas heiterer. Seine warmen Augen funkelten mich an und ein Grinsen zierte seine von Grübchen umgebenen Lippen. „Unsere unerschrockene Reiterin! Kann man etwas für dich tun?"
Ich tätschelte den imposanten Hals des Andalusiers neben mir, der dazu übergegangen war, einem Rappen, dessen Box mit Kalany angeschrieben war, anzubaggern, und tat so, als müsste ich einmal husten, damit ich mehr Zeit hatte, mir die Worte zurechtzulegen. Es war mir äusserst peinlich, hier um Hilfe bitten zu müssen, und wenn es nur eine Packung Eis war. Möglichst belanglos meinte ich schliesslich: „Ich bräuchte was für mein Knie. Ernst hat gesagt, ich soll euch fragen." Miranda wandte sich schier demonstrativ ab und griff in ihre unnatürlich geordnet aussehende Putzbox, aus der sie eine Fellbürste angelte. Carlos allerdings reckte unbehelligt zwei Daumen in die Höhe. „Klar, ich hol' dir ein Cold-Pack! Warte schnell hier!", versicherte er, gab seinem Pferd einen sanften Klaps auf die Kruppe und machte sich dann sogleich zügig auf den Weg die Stallgasse hinauf.
Verurteilend, als wollte sie mir zum Vorwurf machen, dass ich störte, blitzte Miranda zu mir rüber, den blonden Lockenvorhang als Deckmantel für ihre Blicke. Ich hob einmal lustlos eine Braue und liess meine Augen dann über die Boxen schweifen. Laut den Schildern hiess Carlos' schlaksiger Fliegenschimmel Drogheda und Mirandas Brauner hörte auf den Namen Ulysses. Die beide hatten sportlich kurz gehaltene Mähnen und markante Muskeln, die sich unter dem gepflegten Fell abzeichneten.
Ich schluckte hart, als ich in einen Moment Ulysses' wache Augen sah und aus dem Nichts glaubte, Clarety in ihnen zu erkennen. Unweigerlich hatte ich ihr grosses, freundliches Gesicht im Kopf, sah diesen ganz speziellen Ausdruck vor mir, in den ich mich damals verliebt hatte, als sie das erste Mal vor mir gestanden war. Freundlich und doch herausfordernd. Gutmütig und doch sprühend. Liebe war es gewesen, das konnte ich jetzt mit Schmerz erkennen. Damals hatte ich es als das Kribbeln abgetan, das auch ein Rennfahrer haben konnte, wenn er über die Motorhaube eines neuen Autos fuhr. Ich konnte nicht anders, als mich zu erinnern, mir Vorwürfe zu machen und mich zu schämen. Dass sie mich noch überallhin verfolgte, wie so viele andere Gespenster, war nur, weil ich wusste, wie viel ich mir mit ihr verspielt hatte. Und jetzt wollte sie mich nicht mehr loslassen. Sogar in den Augen eines fremden Pferdes spiegelte sie sich wieder und schaute mir direkt in die Seele, sodass ich mich vor Ulysses, diesem schlaksigen Braunen, den ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte, plötzlich ganz nackt und entblösst fühlte.
Es hielt nur für ein paar Sekunden an, bevor die Realität mich wieder aus meiner Trance riss. „Philipp hat dir also erlaubt, Gambino zu reiten?" Verwirrt bis erschrocken blinzelte ich und sah rüber zu Miranda, der offenbar der eigenartige Blickkontakt zwischen mir und Ulysses aufgefallen war. Sie starrte mich mit etwas an, das hätte als Missmut oder Unwohlsein gedeutet werden können, die spitze Nase leicht gerümpft. Erst einen Atemzug später begriff ich, was es wirklich war: Konzentration. Sie musterte mich angestrengt, von oben bis unten, mit einer Entschlossenheit, die mir beinahe Angst machte. Fast so, als wolle sie etwas aus mir heraussaugen. „Äh, ja...", stammelte ich, von ihr aus dem Konzept gebracht. Hastig hob ich die Hand, um mir eine Haarsträhne hinter die Ohren zu schieben, und merkte zu spät, dass da gar nichts unter dem Helm hervorlugte. Also löste ich ungeschickt den Verschluss und zog die Reitkappe aus, woraufhin mir gleich zwei gewellte Strähnen über die Stirn fielen. „Wieso meinst du?"
Miranda runzelte die Augenbrauen. „Einfach so. Normalerweise reiten nur er und Elin ihn...", entgegnete sie vage. Da war ein Unterton in ihrer Stimme, den ich nicht zuordnen konnte, der aber auf seltsame Weise mit der unverhohlenen Schärfe ihres suchenden Blicks harmonisierte. „Du kommst aber nicht aus der Dressursparte, oder?", bohrte sie nach, knapp Gambino beäugend. Der braune Andalusier quiekte Kalany an, woraufhin ich ihm mit einem Zupfen am Zügel bedeutete, damit aufzuhören. Ich verzog das Gesicht und druckste: „Wie kommst du drauf?" War mein Sitz denn so offensichtlich? Nun zeigte Miranda ein Grinsen, das sie tatsächlich freundlich aussehen liess. Nichts mehr zu erahnen von der blöden Zimtzicke. „Nur ein Springreiter würde die Steigbügel eines Dressursattels so kurz schnallen, meine Liebe!", lachte sie. Kaum bemühte ich mich darum, halbwegs amüsiert und nicht komplett genervt davon, dass Carlos noch nicht wieder zurück war, zu wirken, verstummte ihr Lachen wieder und das Nachdenkliche kehrte auf ihr Gesicht zurück.
Ich war geneigt zu fragen, ob mir etwas auf der Stirn klebte oder warum sie mich so komisch anstierte, hielt mich aber zurück, denn in dem Moment erklangen doch rettende Schritte auf Betonboden und ich erblickte Carlos, der triumphal grinsend um die Ecke kurvte. „Ich hab was für dich, Sereina!", verkündete er zufrieden und wedelte mit einer Packung Eis. Drogheda drehte sich zu ihrem Reiter um und brummte leise, wohl in der Hoffnung, es seien Leckerlis drin, und richtete ihre grossen Augen ganz enttäuscht auf mich, als ich einen Schritt auf den jungen Mann zumachte, die Hand ausgestreckt. „Danke dir", murmelte ich und wollte das Pack entgegennehmen, aber Carlos zeigte auf den Boden. „Setzen, du kannst dich nicht zehn Minuten lang zu deinem Knie runterbeugen, ohne dir einen Bandscheibenvorfall zu holen." Unwillig schüttelte ich den Kopf, war mir aber bewusst, dass das Argument von wegen der Boden sei doch dreckig nicht ziehen würde – die Stallgasse war so sauber gefegt, wie nicht einmal unsere in Ibbenbüren gewesen war. „Und Gambino? Den kann ich schliesslich nicht einfach so stehen lassen", widersprach ich. Wie aufs Stichwort rempelte der Andalusier mich mit einem selbstgefälligen Blick von der Seite an. „Das hast du jetzt davon, dass du mich nicht flirten lässt!", schien er zu sagen und wurde auch nicht weicher, als ich mitten im Stolpern mein Gesicht verzerrte. Ja, das hatte ich jetzt davon.
Carlos sah mir, den Kopf schiefstellend, in die Augen und zog einen Mundwinkel nach oben. Ohne sich von mir abzuwenden, nahm er mir den Wallach ab und legte ihm Ulysses' schwarzes Halfter, das noch an den Gitterstäben seiner Box hing, an. Miranda runzelte verdutzt die Stirn, sagte jedoch nichts dazu. Wortlos schnappte sie sich die Putzkiste, warf ihre Wurzelbürste hinein, gab ihrem Pferd noch einen Kuss auf die Nase und stakste dann davon, während dem ich mich umständlich auf den Boden neben Gambino setzte und die Beine ausstreckte. „Was ein Service...", amüsierte ich mich bemüht monoton, konnte jedoch nicht ändern, dass meine Stimme kurz brach, als Carlos neben mir in die Hocke ging und die Eispackung vorsichtig auf mein Knie legte. Seine warm funkelnden, schokoladenbraunen Augen hatten sich fest auf meine geheftet und machten, dass ich immer wieder peinlich berührt wegsehen musste. War es nicht fast schon gestört, dass ein Mensch so lange Blickkontakt zu halten versuchte? Jede normale Person hätte längst damit aufgehört. Doch der junge Mann zwinkerte nur grinsend, meine Verwirrung durchaus bemerkend. „Nur das Beste für unsere Verwundete", erwiderte er keck.
Der sanfte Druck, der das Eis und seine darauf ruhende Hand auf mein Knie ausübten, schmerzte im ersten Moment, aber schon nach einigen Sekunden spürte ich, wie die Kälte durch Elins labberige Reithose drang und sich wie ein angenehmer Schleier über das Stechen legte. Nun senkte Carlos tatsächlich für einen Moment seinen Blick und sah mein Bein an, das quer auf der Stallgasse lag. Mein linker Fuss wippte unruhig hin und her und ich strengte mich an, den rechten Fuss nicht auch noch mitwippen zu lassen. „Du solltest vielleicht ein paar Tage nicht reiten. Wenn's anschwillt, geh zu einem Arzt, aber ich denke nicht, dass das nötig sein wird", meinte der junge Mann. Ich zog eine Augenbraue hoch. „Woher willst du das wissen? Ich könnte mir die Kniescheibe gebrochen haben...", entgegnete ich herausfordernd, auch wenn ich wusste, dass dem definitiv nicht so war. Carlos entfuhr ein kurzes Lachen und er schmunzelte mich kopfschüttelnd an. In seinen Augen funkelte es, auf seinen gebräunten Wangen tanzten die Grübchen. „Ich bin Physiotherapeut. Der einzige, der sich besser mit gebrochenen oder nicht gebrochenen Kniescheiben auskennt als ich, ist der Arzt. Du kannst mir also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit vertrauen, wenn ich sage, dass das nur einen gewaltigen blauen Fleck geben wird."
Ich unterbrach mein Wippen, um langsam zu nicken und mich geschlagen zu geben. Das klang einleuchtend. Seufzend lehnte ich den Kopf nach hinten gegen die Boxentür von Kalany und konzentrierte mich auf das kühle Gefühl an meinem Knie, das den Schmerz der Prellung mittlerweile fast ausgelöscht hatte. Nur noch ein leises Fiepen war zurückgeblieben und erinnerte mich daran, dass ich gerade erst vor versammelter Gesellschaft den Boden geküsst hatte. Das Scheppern des fallenden Hindernisständers klang mir immer noch im Ohr...
„Und du bist jetzt wie lange schon hier?", fragte Carlos mich. Er hatte seine Augen wieder auf meine gerichtet, diesmal versuchte ich, seinem Blick standzuhalten. Noch schlimmer als Philipp war dieser Kerl, und bei Philipp hatte ich mich schon unangenehm beobachtet gefühlt. Noch eine Stufe herzlicher, und ich hätte die zwei als aufdringlich bezeichnen können. „Seit..." Ich brach ab und verzog angestrengt nachdenkend mein Gesicht. Wie lange war es schon her, dass Diego mich nach Basel gefahren hatte wie eine Geisel? „Seit drei oder vier Wochen, glaube ich", konnte ich schliesslich antworten. Unglaublich, wie weit das schon zurücklag. Anfangs war es mir wie eine Ewigkeit vorgekommen, aber seit die Schützlinge da waren, verging die Zeit viel rascher. Ich nahm sie kaum noch wahr, wie die Tage in ihrer sich langsam eingewöhnenden Routine an mir vorbeiflatterten.
Carlos nickte, wieder runter auf mein Knie blickend, ich atmete auf. „Und wie lange bleibst du noch? Machst du einfach Ferien bei deiner Mutter, oder..." Mein Fuss begann wie von alleine wieder zu wippen, als ich ohne nachzudenken erwiderte: „Bis Ende September bleibe ich. Dann gehe ich wieder nach Hause." Den Part mit den Ferien liess ich bewusst im Raum stehen, ohne ihn zu bejahen oder zu verneinen. Carlos hätte ich vielleicht sogar noch von der Geschichte mit meinem Vater erzählen können, er würde es sicherlich besser aufnehmen als Elin, aber es war einfacher, mein feines Netz an allen Enden zu sichern, sonst würde der nächste Windstoss es wegwehen. Wenn ich es Carlos erzählte, wer würde dann noch davon erfahren?
„Dann hast du ja noch genug Zeit, dir was auszudenken, womit du dich bei mir revanchieren kannst. Schliesslich schuldest du mir jetzt schon zum dritten Mal was", bemerkte der junge Mann grinsend und deutete auf die Eispackung, auf der nach wie vor seine Hand lag. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er gesagt hatte, dann brummte ich und zuckte mit den Schultern. Die Geschichte. „Nur, weil du mir ne Eispackung aufs Knie quetschst, heisst das noch lange nicht, dass ich dir etwas schulde. Und das mit Moses und Arnhem hätte ich auch selbst hingekriegt!", protestierte ich, meine Stimme klang weniger griesgrämig als erhofft.
Carlos lachte meinen Spruch weg und sah zu Drogheda rüber, die mittlerweile alles andere als zufrieden aussah. Missbilligend richtete sie den feinen weissen Kopf mit seiner geraden Nasenlinie auf uns und schnaubte einmal laut. In dem Moment erklang ein dumpfes Knarren einer sich öffnenden Bande links von mir, woraufhin ich den Kopf umdrehte, um es besser hören zu können. Hufgeklapper und Schnattern, dann erschien ein Kopf am Eingang der Stallgasse. Meine Mutter.
Auf einmal fühlten sich das Holz der Boxentür an meinem Rücken und der harte Betonboden an meinem Hintern unglaublich unbequem an. Mit einer fliessenden Bewegung sprang ich hoch, die schmerzstillende Wirkung des Eises überschätzend, und schluckte alles runter, was ich in die schwüle Luft des Stalls hinausfluchen wollte, als mein Knie kurz unter einem empörten Stechen einknickte. „Immer langsam mit den jungen Pferden!", warnte Carlos mich, doch ich ignorierte seine Hand, die mir helfen wollte, legte Gambino Ulysses' Halfter ab und verabschiedete mich gezwungen lächelnd von dem jungen Mann, bevor ich umständlich die Stallgasse runter zu meinen Leuten humpelte. Wieder dachte ich daran, dass ich von allen Seiten beobachtet wurde, und mir kam derselbe Gedanke wie in der Halle. Marsch der Schande...
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Erlkönig
Подростковая литератураAus dieser Nacht, die mich umhüllt, von Pol zu Pol schwarz wie das Grab, dank' ich welch' immer Gottes Bild die unbezwung'ne Seel' mir gab. Ein Leben lang sah es so aus, als stünden Sereina Pignatelli alle Türen offen, denn wer Talent, Ehrgeiz und D...