𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟑𝟑: 𝐊𝐞𝐢𝐧𝐞 𝐕𝐨𝐫𝐮𝐫𝐭𝐞𝐢𝐥𝐞

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Die Tage des Augusts verflogen in fast schläfriger Gewohnheit, und niemand wunderte sich, als der September anbrach und die Tage langsam kühler wurden. Kühler und kürzer, aber darum kümmerte sich keiner. Dass die Sonne einem am Mittag nicht mehr die Haut von den Schultern röstete und am Abend auch nicht mehr stundenlang wach hielt, erschien uns allen als Wohltat nach den heissen Sommerwochen. Besonders jetzt, da von den Bäumen entlang der holprigen Auffahrt die ersten Birnen abzufallen begannen und das Gras auf den Weiden schon wieder soweit nachgewachsen war, dass erneutes Heuen anstand.
Ich war ungemein froh, der neuen Tatkräftigkeit der Familie Schmucki zumindest einen Tag lang zu entkommen und radelte deshalb am vierten September schon vor zwölf Uhr in Richtung Stall Beyeler los, auch wenn ich wusste, dass ich nur rund zehn Minuten für die Strecke brauchte. Doch als ich auf den Innenhof einbog, war auch Carlos schon da und winkte mir frisch fröhlich zu. „Guete Morge!", begrüsste er mich, eine Sporttasche aus dem Kofferraum seines Wagens hebend. Ich rief ein knappes ‚hallo' zurück, bevor ich Elins geliehenes Fahrrad hastig an einen Baum lehnte und zu dem jungen Mann rüberjoggte. Dieser trug ein unglaublich beschwingtes Grinsen auf den Lippen und richtete die schokoladenbraunen Augen verschmitzt auf mich. „Erste gute Tat als mein Turniertrottel heute: Würdest du mir bitte Sattel, Zaumzeug und Putzkasten aus der Sattelkammer holen und in den Hänger dort einladen? Den Rest hab' ich schon gestern reingetan. Dann würde ich Drogheda schon mal zu putzen beginnen."
Ich konnte nicht anders, als eine Augenbraue hochzuziehen, nickte aber brav und machte mich in Richtung Stall auf, während dem Carlos noch an seinem Auto rumhantierte und anscheinend etwas suchte. Was für eine Begrüssung, mich gleich wieder loszuschicken... Schon von weitem bemerkte ich, dass heute im Stall Beyeler wohl reges Treiben herrschen musste – in der Halle konnte ich mehrere Umrisse erkennen, von denen immer mal wieder einer am Tor vorbeigaloppierte, und in der Stallgasse waren etliche Pferde angebunden. Ein erster prüfender Blick verschaffte mir, feststellend, dass Miranda nicht da war, ein erleichtertes Gefühl. Diese Zimtzicke konnte mir ruhig gestohlen bleiben.
Einige Entschuldigungen murmelnd schlängelte ich mich zwischen den Reitern hindurch zur Sattelkammer. Hier war zum Glück gerade niemand. Nach kurzer Suchaktion fand ich auch Droghedas Ausrüstung und versuchte mir faulheitsbedingt alles gleichzeitig aufzuladen. Springsattel auf den linken Arm, Putzkiste in die rechte Hand, Zaumzeug und Martingal über die Schulter. Würde schon irgendwie gehen. Ächzend und schwankend kämpfte ich mich mit der Last, die sich schon nach wenigen Schritten wie drei Tonnen Ballast anfühlte, zurück auf den Innenhof und rüber zum Anhänger, den Carlos mittlerweile an sein Auto angekoppelt hatte.
„Pass auf, dass du mir nicht zusammenbrichst!", ermahnte er mich lachend, als er mir mit einem pelzbesetzten Halfter entgegenkam. Ich gab ihm zu verstehen, dass er seine dummen Sprüche für sich behalten konnte, versah den Konter aber mit einem Zwinkern, sodass er nicht ganz so passiv aggressiv klang. Zügig verstaute ich die Ausrüstung im Laderaum des Hängers und marschierte dann wieder zurück zum Stall, wo Carlos Drogheda schon aus der Box geholt hatte. „Wir putzen sie draussen beim Hänger, hier drin ist zu viel los", meinte der junge Mann und fuhr sich kurz durch die schwarzen Locken, woraufhin ich ein knappes Schnauben ausstiess. „No shit, Sherlock!", gab ich zurück, war aber ganz froh darüber, nicht nochmal zurückrennen und die Putzkiste wieder aus dem Hänger holen zu müssen, denn die weisse Stute war schon ziemlich dreckig.
„War die etwa über Nacht noch auf der Weide?" Carlos kratzte sich an seiner Nase und liess sein Pferd, den Strick locker in einer Hand, neben sich her aus dem Stall raustrotten. „Klar, warum meinst du?", entgegnete er beiläufig. Ich zog eine Augenbraue hoch und grüsste kurz Ernst Beyeler, der mit einem sportlichen Rappen an uns vorbei in die Halle ging, bevor ich spottete: „Na, weil sie so blitzeblank ist." Meine Augen folgten den braun-grünen Schlieren, die sich über Droghedas gesamte linke Seite zogen und dem Fliegenschimmel ein unvorteilhaftes Muster auf die Kruppe zauberten. „Bei uns kamen die Pferde vor einem Turnier nie auf die Weide. Gibt weniger Scherereien." Als Carlos' Kopf sich zu mir umdrehte und seine dunklen, plötzlich seltsam wirkenden Augen sich in meine bohrten, kam ein unangenehmes Gefühl in mir hoch, das mich fast dazu brachte, zu fragen, was los sei. Doch da unterbrach der junge Mann den Blickkontakt auch schon wieder und ging, sich räuspernd, schneller.

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