𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟒𝟓: 𝐇𝐢𝐞𝐫 𝐮𝐧𝐝 𝐣𝐞𝐭𝐳𝐭

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Ich fröstelte, als ich aus der Hütte hinaus in den frühen Morgen trat. Noch kaum ein Sonnenstrahl hatte es über die Bergwände geschafft, die mich von allen Seiten umgaben, im Schatten der Tannenwäldchen auf den Hängen leuchtete weisslich der Tau. „Das war der blanke Horror!", beschwerte ich mich, während dem ich die Arme unter lautstarkem Knacken meiner Schultergelenke streckte. „Solltet ihr mich je wieder fragen, ob ich bei so was mitmache, kennt ihr meine Antwort jetzt schon."
Genervt stellte ich fest, wie Elin neben mir zu gackern begann. Im Gegensatz zu mir schien sie kein bisschen müde zu sein, obwohl sie schon fast zwei Stunden länger wach war, und meine eigene Müdigkeit amüsierte sie wohl. Ich warf einen meiner Turnschuhe nach ihr. „Hör auf, das ist nicht lustig! Du hast die ganze Nacht geschnarcht, und mir ist dreimal irgendetwas in den Schlafsack gekrochen!" Elin wich meinem halbherzigen Wurf geschickt aus und grinste nur noch breiter. Mit einem schalkhaften Glitzern in den goldbraunen Augen entgegnete sie: „Das war das Hüttengespenst! Sei froh, dass ich es mit meinem Schnarchen vertrieben habe, sonst hätte es dir die Zehen gefressen!" Dafür bekam sie von ihrem Grossvater, der eben mit zwei mächtigen Glocken über den Schultern herbeikam, einen nicht ganz unsanften Nackenklatscher. Der wohlbeleibte alte Mann, der sich mir gestern bei unserer Ankunft auf der Alm als Ueli vorgestellt hatte, schüttelte den Kopf. „Verzell nöd sonä Mais, susch glaubt sie's no", brummte er in seinen beeindruckenden Bart, schmunzelte aber versteckt.
Ich war geneigt, ihn darauf hinzuweisen, dass er am allerlautesten geschnarcht hatte, liess es aber. Wer, ausser mir, hatte letzte Nacht in dieser blöden Hütte schon nicht geschnarcht? Die ganze Familie Schmucki, versammelt bis fast auf das letzte Mitglied, wie es mir schien, hatte wohl die alten Holzwände zum Einstürzen bringen wollen. Als wäre es dort drin nicht so schon ungemütlich genug gewesen. Das klapprige Gebäude, das normalerweise offenbar nur für die Älplerfamilie - bestehend aus Ueli, seinem Bruder Sepp und dessen erwachsenen Sohn Beat mit seiner Tochter, deren Namen ich vergessen hatte - ausgelegt war, musste nun für sechs zusätzliche Personen herhalten. Von uns war einzig Esther zu Hause geblieben, um auf dem Erlhof für Recht und Ordnung zu sorgen, bis wir die Kühe sicher runter ins Tal gebracht hatten. Jetzt bereute ich es, nicht bei ihr geblieben zu sein, sondern Fabiennes Drängen nachgegeben und zugestimmt zu haben, beim Almabtrieb so gut es eben ging mitanzupacken.
„Chunnsch bitte no gschnäll go hälfä? Mir müänd dä Letschtä d Gloggä go aalegge!", hörte ich Urs sagen, woraufhin Elin mir zunickte und mich zu ihr und ihrem Vater rüberwinkte. „Komm, Sereina, du kannst auch gleich helfen!", beschloss sie, ohne mich zu fragen, ob ich das wollte. Gestern Abend hatte ich mit einem mulmigen Gefühl dabei assistiert, die gesamthaft rund vierzig Kühe in den Stall runterzutreiben, das hatte mir gereicht. Kühe lagen mir nun einmal einfach nicht. Trotzdem nuschelte ich ein ergebenes ‚Ja' und nahm von Ueli zwei Glocken in Empfang. Dass ich das überhaupt mitmachte. Unter dem Gewicht der beiden Schellen ächzte ich erschrocken auf, setzte jedoch eine tapfere Miene auf, als Urs sie mir wieder abnehmen wollte. „Passt schon", presste ich hervor und ging damit hoch zum Gehege, in dem die Kühe seit zwei Stunden stillhalten mussten, während dem Fabienne und Mama ihnen kunstvollen Blumenschmuck aufsetzten. Anna half während dessen Beats Tochter dabei, irgendwelche Ziegen zurechtzumachen, von denen ich keine Ahnung hatte, wem sie gehörten. Hoffentlich nicht uns.
Kaum sah - oder hörte, so ohrenbetäubend war das Gebimmel - sie mich kommen, zeigte Fabienne stolz auf ihr Werk. „Lueg mal, wie hübsch!", trällerte sie. Das quirlige Mädchen steckte, ebenso wie die andern, bereits in einer sonderbaren Tracht und hatte die dunkelbraunen Haare in Zöpfen zurückgesteckt. Ich zwang mich zu einem angestrengten Lächeln, bevor ich die beiden Glocken ins Gehege reintrug, wo gescheckte und einfarbige Tiere in Reih und Glied angebunden waren. „Trägst du nicht auch so ein hübsches Kleid?", fragte ich Elin, die hinter mir mit zwei weiteren Glocken ankam. Sie war lediglich in ein Paar schwarze Jeans und ein Edelweisshemd geschlüpft, das bereits erste Flecken davon aufwies, dass sie heute früh Urs' und Beats Kühe aufgetrennt hatte. Zum Glück hatte ich da nicht mithelfen müssen, auch wenn der Lärm dennoch gereicht hatte, mich vollends zu wecken. „Ich? Vergiss es! Mich kriegst du nicht mit zehn Pferden in ein Kleid", antwortete Elin. Mir entfuhr, die Schellen abstellend, ein leises Schnauben. Ich stellte mir Elin in einem Kleid vor, und der Gedanke daran schien wirklich absurd.
Etwas abwertend musterte das Bauernmädchen mich, während dem ich die grosse Schnalle der ersten Glocke zu öffnen versuchte, und meinte dann: „Dich müssen wir aber noch besser einkleiden. So kommst du nicht mit uns runter!" Dabei zeigte sie auf mein doch recht unpassendes Schuhwerk und meine Jogginghose. Niemand hatte mich bei meiner Abreise in Münster vorgewarnt, dass ich im Lauf meines Aufenthalts in der Schweiz auf eine Alm geschleppt werden würde. Entsprechend dürftig war meine Ausrüstung. Dass ich so nicht in die Berge sollte, war mir klar, dennoch schüttelte ich entschieden den Kopf. „Ne, ich zieh keins von euren grässlichen Hemden an. Und schon gar kein Kleid!", wehrte ich mich. Hinter mir hörte ich ein Lachen. Ich drehte mich um und blickte in Ueli Schmuckis zerfurchtes Gesicht, das mich mit seinem riesigen Bart und den fehlenden Zähnen angrinste. „Bruuch isch Bruuch! Du chasch eis vo miinä aaleggä."
Ohne weiteres Wort bekam ich einen nach altem Heu und Kuh riechenden Lumpen in die Hand gedrückt, der bei näherer Betrachtung gut doppelt so weit geschnitten war wie mein Kapuzenpulli. „Sie, ich...", begann ich zögerlich, doch da hatte der alte Mann sich auch schon wieder auf zur Hütte gemacht, wo die restlichen Glocken standen. Ich faltete daraufhin mit gerümpfter Nase das Hemd auseinander und versuchte festzustellen, ob es tatsächlich gebraucht war, oder ob der Geruch sich einfach schon so sehr in den taubenblauen Stoff gefressen hatte, dass selbst ein Waschgang ihn nicht mehr verdrängen konnte. Meinen skeptischen Blick bemerkend, klopfte Elin mir auf die Schulter. „Los, zieh das an. Danach machen wir die Viecher fertig."
Als schliesslich jede Kuh eine Glocke trug und mit prächtigen Blumen geschmückt war, kam eine seltsame Euphorie in die Familie Schmucki. Plötzlich schienen der kalte Luftzug von den Hängen hinab und die frühe Stunde niemandem mehr etwas auszumachen. Es brauchte nur noch ein paar letzte Handzeichen, ein paar unverständliche Rufe zwischen Urs und seinem Cousin, bis die ersten Tiere frisch-fröhlich aus dem Gehege trotteten und sich meiner Mutter anschlossen, die mit einem Stock bewaffnet und Fabienne an ihrer Seite den Trupp anführte. Zügigen Schrittes ging sie voraus über den kaum befestigten Weg, beschwingt in Richtung Tal. Bald vibrierte die Luft vom Donnern der Glocken, der Lärm dröhnte in meinem rechten Ohr und machte mich einen Moment lang fast orientierungslos. Die noch in Schatten getauchten Bergwiesen, die dunklen Kiefernwälder und der makellose Herbsthimmel, alles kippte kurz ineinander wie taumelnde Bauklötze. Doch nur, bis Elin meinen Arm packte und mich mit sich zog. „Komm jetzt, wir übernehmen die hier!", trompetete sie über das Getöse hinweg.
Ein paar Schritte lang fühlte ich mich eigenartig zittrig. Ich beäugte die gescheckten Kühe um mich herum, denen wir uns angeschlossen hatten, und schielte über meine Schulter, wo weiter hinten ein Meer aus braunen Kühen folgte. Fast schon bedrohlich nah marschierten die grossen Tiere neben uns, ruckten bei jedem Schritt mit ihren massigen Köpfen, sodass ihre dahlienbehängten Hörner durch die kühle Luft schnitten. Unter kaum hörbarem Knistern sanken ihre Klauen in den weichen Kies ein. Ich verdammte ein weiteres Mal meine Entscheidung, mit den Schmuckis mitgegangen zu sein. „Scheisse", fluchte ich leise und wischte mir über das Gesicht. Mir war immer noch schwindlig, die Glocken waren alles, was ich hören konnte.
Elin sah zu mir rüber, während dem sie ein etwas zögerliches Tier mit einem Klopfen ihres Stockes antrieb. Sie musterte mich und stiess ein durch das Gebimmel kaum hörbares Seufzen aus. „Man gewöhnt sich daran", versicherte sie, nicht mitleidig, aber doch verständnisvoll. Stumm blinzelte ich und hielt mich zurück, ihr zu sagen, dass ich mich gar nicht daran gewöhnen wollte. Dann aber erreichten wir die Teerstrasse, ein belebender Windstoss verwehte meinen Schwindel und meine Knie hörten auf zu zittern. Mit den Augen folgte ich dem schlängelnden Lauf der Route, Kurve um Kurve raus aus den Bergen. Die vertraute Talsohle der Linthebene lag noch hinter den Hängen verborgen, doch weit unten rauschten verlockend erste Laubbäume. Ich atmete ein, atmete aus, und es wurde etwas besser. „An den Lärm oder an die Kühe?", fragte ich nach, mit den Fingern am Saum meines geliehenen Edelweisshemdes nestelnd. Jetzt, da ich es trug, schien es gar nicht mehr so sehr zu stinken. Elin stiess ein Lachen aus. „Sag bloss, du hast Schiss vor denen!", grinste sie und versetzte mir einen spielerischen Stoss.
Sofort bemühte ich mich darum, zu erklären, dass es keine Angst, sondern etwas weitaus Banaleres war, für das ich aber keine Worte finden konnte. Daraus schloss Elin, dass ich wohl doch Angst haben musste. „Komm schon, das sind doch nur grosse Hunde!", beteuerte sie und drückte mir ihren Stock in die Hand. „Hier! Du machst das jetzt, dann merkst du ganz schnell, dass die Viecher eigentlich weniger kompliziert sind als Pferde." Leicht säuerlich nahm ich den Stab entgegen, doch eine Diskussion hätte wohl nichts gebracht. Nach ein paar Minuten versuchte bereits die erste Kuh, aus der Herde auszubrechen, als hätte sie gemerkt, dass es hinter ihr einen Führungswechsel gegeben hatte. „Hoch mit dem Stab, mach dich gross!", ermutigte Elin mich, unsicher folgte ich ihren Anweisungen. Ein lautes ‚he!' ausstossend, hob ich ich beide Arme in die Luft und wedelte mit dem Stock. Das schwarz-gescheckte Tier schien nicht einmal Kenntnis von meinen Bemühungen zu nehmen. Schliesslich kam Elin mir zur Hilfe. „Hopp, Urezza, lauf!", rief sie entschlossen, ihr gehorchte die Kuh auch ohne Stock.
Während dem Urezza sich widerwillig wieder in den Strom ihrer Herde einreihte, nervte ich mich: „Siehst du? Die hören nicht auf mich." Elin lachte nur. „Würde ich auch nicht, wenn du wie ein Schluck Wasser in der Kurve hinter mir herwatscheln würdest. Man sieht von weitem, dass du kein Bauernkind bist!" Als sie meinen pikierten Blick bemerkte, schüttelte sie den Kopf, zurrte ihren nussbraunen Pferdeschwanz zurecht und fügte hinzu: „Ach, das kriegen wir schon noch hin! Bis nächsten Herbst kannst du alles, was ich kann. Vielleicht nicht ganz so gut, aber was soll's..." Sie stiess ein einzelnes Lachen aus. Verwirrt runzelte ich die Augenbrauen. „Bis nächsten Herbst?", echote ich blechern. Elin nickte so eifrig, dass sie mich für einen Moment an Fabienne erinnerte, die sich an der Spitze des Zuges bei meiner Mutter eingehakt hatte. „Du bleibst ja jetzt, oder?"
Etwas Seltsames durchzuckte mich bei dieser Frage. Noch vor wenigen Tagen schien ihr der Gedanke daran, mich hierzubehalten, grauenhaft vorgekommen zu sein, und jetzt klang sie, als hoffte sie im Innersten auf ein Ja. Als wäre ich auf eine seltsame Art und Weise schon immer hier gewesen, als hätte ich schon immer hierhin gehört. Vielleicht hatte ich das ja auch. Fernab von all dem Druck und den Schleifen, die so lange mein Leben bestimmt hatten. Obwohl, nicht mehr allzu lange fernab. Das Projekt - mein Projekt - nahm Gestalt an. Es war alles in die Wege geleitet, nur noch ein paar letzte mutige Schritte fehlten. Urs hatte Recht behalten: Ich konnte hier etwas Neues aufbauen. Vielleicht nicht vollkommen unbeschadet, aber das war ich ja auch nicht. Wir alle waren das nicht. Der Erlhof war ein Haufen unvollkommener, angeschlagener Kreaturen, die alle auf etwas Besseres hofften, und es Tag für Tag zu finden schienen. Dass auch ich etwas Besseres gesucht hatte, war mir nie klar gewesen. Nie, bis ich es gefunden hatte. Hier.
Auf einmal verwandelte sich die herbstliche Berglandschaft um mich herum - die orangenen Bäume begannen zu leuchten, die dunklen Tannen nickten mir freundlich zu und das tosende Donnern der Glocken stieg in einen klareren Himmel hinauf. Ich spürte es in meiner Brust, spürte das Vibrieren, das mein Herz fast zum Stolpern brachte, spürte den Boden unter meinen Füssen beben. Und dann verschmolz ich mit dem Strom aus braunen und gescheckten Kühen, wir alle verschmolzen zu einem einzigen Körper, der unter laut erschallendem Gebimmel ins Tal hinunterfloss. So befremdlich all diese Eindrücke im mich herum auch waren, so schwindlig und orientierungslos mich der Lärm auch machte, es war plötzlich auf seine eigene Art wundervoll. Ohrenbetäubend und furchteinflössend, aber im Getöse und den marschierenden Silhouetten der Kühe erkannte ich etwas Mächtiges, das mir Kraft verlieh. Kaum merklich straffte sich mein Körper und ich fühlte mich wie jemand, der zum ersten Mal in seinem Leben auf eigenen Beinen stand.
„Sereina?", bohrte Elin nach, ihre Stimme ging fast unter im Dröhnen der Glocken. Blinzelnd sah ich zu ihr rüber. „Ja...ja, ich bleibe", antwortete ich mit der Stimme einer in die Realität zurückgerissenen Schlafwandlerin. Ein lebhaftes Grinsen huschte über das Gesicht des Bauernmädchens und zeichnete Grübchen auf ihre Wangen. Zum ersten Mal fiel mir die Ähnlichkeit zu ihrer jüngeren Schwester wirklich auf - zum ersten Mal war sämtlicher Grimm aus ihren Zügen verschwunden und das frohe Funkeln, das ich von Fabienne kannte, glimmerte hinter bröckelnden Mauern hervor. „Was war es am Ende? Dass du dich doch umentschieden hast..."
Ohne, dass ich es aufhalten konnte, entglitt auch mir ein Lächeln, federleicht und scheu. Ich blickte in das sich majestätisch unter uns ausbreitende Tal hinab und erwiderte: „Alles." Tief holte ich Luft, atmete die würzige Bergluft ein. Dachte an Lacrima und die andern, die zu Hause auf mich warteten. An alles, was jetzt wirklich anders sein würde. Hier und jetzt. „Es war alles."

ErlkönigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt