Es war Nacht. Pechschwarze, durchdringende Nacht. In jede Spalte kroch die Dunkelheit, sie umgab mich von allen Seiten, nur über mir schwebte eine fahle Kugel aus Licht, die hätte ein Mond sein können. An meinen Wangen rauschte eisig kalter Wind, er schnitt durch meine Haut und stach in meine Augen wie tausend glühende Nadeln. Der heulende Luftzug riss an meinen Haaren, die böse zischend, als wären es Schlangen, die mir aus dem Schädel wuchsen, hinter mir herpeitschten. Unter mir raste dumpf knirschender Boden dahin, in meinen Augenwinkeln sah ich dürre, düstere Bäume vorbeifliegen. Erst nach und nach begriff ich, dass in meinen Händen straff gespannte Zügel lagen und mein Körper vom rauen Rhythmus eines panischen Jagdgalopps durchgerüttelt wurde. Wilder Viertakt donnerte in meinen Ohren, zwischen meinen Schenkeln schnaufte ein dunkles Pferd laut wie ein Güterzug. Ich musste mir nicht einmal das matt im toten Mondlicht schimmernde, schwarz getönte Fell ansehen, um zu wissen, dass es Arango war, dessen sich an meinen Beinen stählern anfühlende Muskeln sich unter mir streckten. Hitze stieg von seinem bebenden Körper auf und machte es mir so gut wie unmöglich, im schneidenden Fahrtwind, der mir Tränen in die Augen trieb, zu frieren. Stattdessen machte sich ein unangenehmes Gefühl in mir drin breit. Ein gehetztes, ängstliches Gefühl, als würde mich etwas verfolgen.
„Hoh, Junge, hoh!", versuchte ich, Arango zu beruhigen, aber meine Worte wirkten auf ihn wie Öl auf eine Flamme. Das Feuer loderte brüllend auf, und der grosse Dunkle schnellte noch mehr nach vorne, die Ohren flach an den flatternden Schopf gelegt. Das Prusten, das aus seinen geblähten Nüstern drang, schwoll an, bis es zusammen mit dem Heulen an meinem Gesicht und dem Trommeln seiner Hufe alles einnahm, was ich wahrnehmen konnte. Nur noch Schwärze, Geschwindigkeit und eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse, die durch den düsteren Wald hallte.
„Langsamer!", rief ich gegen den Lärm an und zog an den Zügeln in meiner Hand, aber es war, als würde ich versuchen, eine Dampflok zu halten. Meine Hilfen kamen nicht einmal durch, geschweige denn bewirkten sie etwas, ausser, dass Arango noch aggressiver vorwärtspreschte. Hartgefrorene Erde sprühte durch die Luft, ein Zweig peitschte über mein Gesicht. Erschrocken schrie ich auf und presste kurz eine Hand auf das rechte Auge, das nun nur noch mehr tränte. Die Finger dann sofort wieder um den losgelassenen Zügel schliessend, drehte ich den Kopf, um zu erkennen, ob etwas hinter uns her war, aber da war nichts, ausser höhnisch tanzenden Schatten.
„Hey, Sereina!", schrillte jedoch plötzlich eine Stimme durch den Wald. Ich schoss herum, woraufhin ich beinahe das Gleichgewicht verlor und von Arangos Rücken rutschte. Nur ein beherzter Griff in seine fliegende Mähne rettete mich vor einem harten Sturz, der mich wahrscheinlich direkt ins Wunderland gehauen hätte. „Sereina!", kam die Stimme wieder. Diesmal konnte ich sie etwas zuordnen, das wirklich hinter mir zu sein schien. Etwas? Das Echo meines eigenen Namens klang nach einer Person, die ich kannte. Joelle. Sie war irgendwo, irgendwo hinter mir. Sie beobachtete mich. Mich und Arango, der beim Klang ihrer Stimme noch einen Zahn zulegte. Die tanzenden Schatten wurden zu einer wabernden, unscharfen Gestalt, ohne Kontur, ohne Muster, doch ich konnte erkennen, dass sie näher kam.
„Hey, Sereina! Siehst du das?", ächzte die Stimme, ihre Worte verfingen sich wie Spinnweben in den geisterhaften Ästen. Ich glaubte, in den Schwaden einen schmalen Finger zu erkennen, der mahnend in meine Richtung zeigte. Mein Blick schoss in einer plötzlichen Vorahnung nach vorne, gerade im letzten Moment. Mit einem haarscharfen Manöver wich Arango einem tief über den Weg hängenden Baumstamm aus, ich konnte dank eines Reflexes den Kopf einziehen und so verhindern, zu Boden geschlagen zu werden. Und schon ging der halsbrecherische Ritt weiter. Keuchend galoppierte das Pferd unter mir schneller, als wollte es Joelle abschütteln. Doch die Stimme hatte sich uns wie ein Bluthund an die Fersen geheftet. „Weichei, Sereina!", krakeelte sie durch den Wald, „Das schaffst du nie!"
Ich erlaubte mir einen kurzen Blick zurück. Die Schatten waren näher und rückten unaufhaltsam auf mich zu. Beklemmende Angst stieg in mir hoch, kalter Schweiss machte meine Hände schlüpfrig. „Nein, du tötest ihn nicht noch einmal!", schrie ich zitternd zurück. Nun nahm ich allen Mut zusammen, die in mir tobenden Warnungen ignorierend, die mir davon abrieten, ein panisches Pferd weiter anzutreiben, und drückte Arango die Fersen in den pumpenden Bauch. Augenblicklich explodierte der grosse Dunkle. Die Wucht der Bewegung, als er aufs Vollste seiner Kräfte beschleunigte, riss mich beinahe von ihm runter, und mein Versuch, mich mit den Waden festzuhalten, quittierte er mit immer flacheren und schnelleren Galoppsprüngen. Da-da-da-dam, da-da-da-dam, da-da-da-dam. Der Rhythmus verschwamm zu einem einzigen Grollen, doch die Stimme übertönte es nicht.
„Ich wusste es, du bist immer noch ein Weichei!", verspottete sie mich. „Lass uns in Ruhe!", fuhr ich Joelles Gespenst schrill an, aber alles, was zurückkam, war hohles, herablassendes Lachen. Der Luftzug an meinem Gesicht wurde wärmer, als wäre heisser Atem neben mir. Furchtsames Kribbeln in meinen steifen Fingerspitzen bewegte mich dazu, Arango noch mehr anzuspornen, auch wenn das laute Keuchen unter mir eindeutig verriet, dass er schon alles gab. In meinen Augenwinkeln flimmerten die Bäume nur noch so dahin, einer ging in den nächsten über. „Sereina ist ein Weichei, Sereina ist ein Weichei...", trällerte die Stimme in einem unheimlichen Singsang, der von allen Seiten zu kommen schien. Hätte ich nicht die Zügel in den Händen gehabt, so hätte ich mir die Ohren zugepresst, in der Hoffnung, Joelle auszusperren. „Du schaffst das nie, du Memme!", redete sie weiter auf mich ein, so sehr ich auch versuchte, sie zu ignorieren, die eiskalten, bösartigen Worte drangen zu mir durch. Doch, diesmal würde ich es schaffen. Diesmal würde sie mir Arango nicht wieder wegnehmen. Eine Windböe rüttelte an meiner Schulter und ich hatte beinahe das Gefühl, als würde es um mich herum noch düsterer. Bald hätte sie mich eingeholt...
„Memme!", schoss durch die Nacht, fast direkt hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um, das Risiko eingehend, erneut das Gleichgewicht zu verlieren. Nochmal: „Memme!" Diesmal kam das Wort von links von mir. Wieder fuhr ich herum, aber da war der Schatten schon wieder weg. „Memme, Memme!", höhnte die Stimme, wieder aus einer anderen Richtung. Erfolglos versuchte ich, das Schreckgespenst ausfindig zu machen, aber jedes Mal war es schneller als ich. Sekunde für Sekunde, Galoppsprung für Galoppsprung drehte sich der Schatten schneller um mich, mal die Richtung ändernd, aber nie verweilend. Mir entfuhr frustrierter Schrei. „Memme, Memme, Memme!" „Was willst du von mir!", kreischte ich gegen den brüllenden Fahrtwind und das Donnern von Arangos fliegenden Hufen, den Kopf nach hinten drehend. Plötzlich war die Stimme ruhig. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Unsicher atmend starrte ich auf den Weg hinter mir, die Hände fest in der Mähne meines Pferdes vergraben. War sie weg? Da hörte ich es aus dem Nichts heraus wieder. „Memme!" Diesmal direkt vor mir. Ich fuhr herum, und genau in diesem Moment wurde mir Arango unter dem Körper weggerissen.
So schnell, dass ich es kaum begreifen konnte, dass ich nicht einmal blinzeln konnte, aber dennoch wie in Zeitlupe, nahm ich am Rande meines Bewusstseins wahr, wie sich der grosse Dunkle über einen den Weg blockierenden Baumstamm hieven wollte. Ein Knirschen, ein Ruck an meinem Becken, und sein Rücken kippte senkrecht weg, als seine Hinterbeine ausrutschten und seine Vorderbeine hängen blieben. Die Nacht und der Wald drehten sich vor meinen Augen, und dann krachte es auch schon so laut, dass der Knall mit einem Mal alle andern Geräusche ausmerzte. Gleissender, stechender Schmerz fuhr durch all meine Glieder, ich hörte das Knacken von zerschmetternden Knochen, dann schlug mein Kopf auf und der ganze Rest verschwand ebenfalls.
Als nächstes begriff ich, dass ich die Lider geschlossen hatte. Ich lag auf der linken Seite, das Gesicht gebettet auf den hartgefrorenen Boden, auf mir drauf ein erdrückendes, sich schwerfällig bewegendes Gewicht. Nur einen rasselnden, gurgelnden Atemzug brachte ich zustande, alles andere war unmöglich. Bewegen ging nicht, auch, wenn das Gewicht langsam von mir runterglitt. Aufrichten ging nicht, dafür fehlte mir die Kraft. Ich blinzelte, sah mit verklärtem Blick einen dunklen Schemen sich aufrappeln und dann eilig auf drei Beinen flüchten. Klänge gab es keine mehr. Keinen Viertakt mehr, kein Schnaufen mehr. Nicht einmal die Stimme war zu hören. Nur die Schatten waren noch da, tanzten ihren höhnenden Tanz, während dem ich wieder entglitt und das Leben geduldig aus meinem zertrümmerten Körper hinaus auf den Waldboden tröpfelte.
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Erlkönig
Подростковая литератураAus dieser Nacht, die mich umhüllt, von Pol zu Pol schwarz wie das Grab, dank' ich welch' immer Gottes Bild die unbezwung'ne Seel' mir gab. Ein Leben lang sah es so aus, als stünden Sereina Pignatelli alle Türen offen, denn wer Talent, Ehrgeiz und D...