𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟑𝟒: 𝐍𝐮𝐫 𝐞𝐢𝐧 𝐍𝐚𝐦𝐞

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Wie schon vermutet kam Carlos nicht auf eine der vorderen Platzierungen, sondern fand sich auf Rang 45 wieder. Mit zwölf Strafpunkten und einer unspektakulären Zeit hatte keiner von uns beiden mehr erwartet, und während dem Carlos seinen Trostpreis entgegennahm, ritt ich für ihn Drogheda auf dem mittlerweile fast leeren Abreitplatz trocken. Die Stute war so seelenruhig unterwegs, dass ich mich getraute, die Zügel hängen zu lassen und nur in einer Hand zu halten. Schliesslich war sie jetzt mit dem Platz schon etwas vertrauter als noch vor zwei Stunden, und die dort noch so gefährlichen Ecken waren mittlerweile harmlos geworden. Nur noch ein Augenrollen beim in der kühlen Brise raschelnden Gebüsch, und ein kleiner Schritt zur Seite bei der am Boden liegenden Plane auf der andern Seite des Zauns. Alles in allem schien Drogheda zu wissen, dass sie, für Carlos' Ansprüche, gute Arbeit geleistet hatte, denn aus ihren entspannten, flüssigen Bewegungen spürte ich eine sich immer mehr verankernde Zufriedenheit hinaus. Sie schien zu begreifen, dass sie jetzt Feierabend hatte und sich auf Zuhause freuen durfte, wo eine gemütliche Box und eine grosse Ladung Heu auf sie warteten. Ich musste mir zwar einige eigenartige Blicke von andern Reitern gefallen lassen, da ich mich in Jeans und Turnschuhen auf den Rücken der Schimmelstute gesetzt hatte, aber das hielt mich nicht davon ab, das Ganze irgendwie auch zu geniessen.
Ein paar Mal erwischte ich mich dabei, wie ich die beiden in der Platzmitte aufgestellten Hindernisse beäugte und mir vorstellte, wie es wäre, dem Pferd unter mir einfach die Galopphilfe zu geben und sie über die Stangen zu lenken. Wann war ich das letzte Mal gesprungen? Vor Wochen, wenn nicht Monaten. Claretys Verletzung hatte meinen steten Rhythmus aus Trainings und Turnieren regelrecht durcheinandergebracht. Und dann war ja auch schon das mit Andraste passiert. Als ich die Stangen ein drittes Mal so ansah, glaubte ich, wieder den Aufschrei der Menge zu hören, der das Aufbäumen der jungen Stute begleitet hatte. Ein Aufschrei, gefolgt, von erschrockener Stille, als sie in sich zusammensackte und zu Boden krachte. Das Bild der sich im Sand windenden Andraste blieb fern, aber ich erinnerte mich an das Echo ihres angestrengten Ächzens, das wie dumpfe Schreie an mein rechtes Ohr drang. Plötzlich musste ich, in einem Aufwallen von Übelkeit, die Augen von den Stangen des kleinen Oxers abwenden und mich mit beiden Händen auf Droghedas schmalen Widerrist stützen, was den Fliegenschimmel dazu brachte, anzuhalten und sich verdutzt nach mir umzudrehen.
Ein paar Sekunden lang war ich noch wie gefangen in der Geräuschkulisse jenes schrecklichen Tages, spürte fast die dutzenden Blicke auf mir, als ich wieder die Panik in meinen Muskeln wahrnahm, die mich durchflutete, während dem ich mich von Papa losriss und über die Bande sprang, um zu der im Staub zuckenden Stute zu gelangen. Dann verschwand es allmählich wie ein Fiebertraum. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, springen zu wollen... „Alles gut, Einhorn!", flüsterte ich Drogheda zu und liess sie mit der Nase unsicher die Spitze meines Schuhs berühren. Ihr warmer Atem streifte meinen Knöchel und entlockte mir ein trauriges Lächeln. Da kitzelte etwas auf meiner Wange, und noch bevor ich es mir versah, war ich in stumme Tränen ausgebrochen. Kein Schluchzen bahnte sich seinen Weg durch meine Brust, kein Wimmern zwängte sich durch meinen Hals. Kein Ton kam über meine Lippen, die immer noch traurig lächelten. Nur ein leises Schniefen erklang, als ich Luft holen wollte.
„Mir geht's gut!", beschwor ich ein zweites Mal, Drogheda den von kleinen schwarzen Punkten und silbergrauen Ringen gespickten Hals tätschelnd. Diese schien nicht ganz überzeugt, schritt aber wieder an, während dem ich versuchte, mir das Gesicht trockenzuwischen. Scheisse nochmal, so konnte ich Carlos nicht unter die Augen treten. Der würde weiss Gott was von mir denken. Doch so, wie ich mein Glück kannte, tauchte sein schwarzer Lockenschopf genau da hinter der Reithalle auf. In den Händen hielt er die Trostpreis-Plakette, und seinem ulkigen Gang zufolge war er immer noch bester Laune. „Ohje...", murmelte ich leise und senkte rasch die Hände, um es ein bisschen weniger danach aussehen zu lassen, als hätte ich gerade geflennt. Der junge Mann kam zügig näher, und mit jedem Schritt wurde sein gerade noch strahlendes Gesicht ernster. Sah ich wirklich so schlimm aus?
„Hey, bei dir alles in Ordnung?", rief er mir schliesslich zu, die dichten Augenbrauen nun gerunzelt, und stemmte die Arme zögerlich in die Seiten. „Ja, alles bestens!", versuchte ich zu trällern, aber etwas klang komisch an meiner Stimme. Erwartungsgemäss wurde Carlos' Blick nur noch prüfender und er stellte den Kopf auffordernd schief. Ich stiess ein zittriges Seufzen aus und verzog den Mund. „Es ist nichts, wirklich, ich..." Völlig ratlos brach ich ab, in meinen Augen bahnten sich neue Tränen an. „Verflucht sei dieses Hindernis!", dachte ich mir, aber das nützte jetzt auch nichts. Das Hindernis war doch nicht das Problem. Was das Problem war, konnte ich gar nicht genau sagen. „Es ist alles wunderbar, wirklich. Es ist nur...das Springen... Früher habe ich es so geliebt", klagte ich, den Handrücken gegen meine laufende Nase drückend, „Es war alles, was ich wollte. Und jetzt ist das alles kaputt, nur weil..." Diesmal verhinderte ein weiterer Schwall von Tränen, dass ich weitersprach. Woher kam nur dieser ganze Rotz?! Es machte mich fast schon wütend, denn traurig war ich kaum noch. Wütend, und vielleicht verwirrt. Nein, ganz sicher verwirrt. Dass sich etwas aufstaute, das war ganz normal. Damit konnte ich leben, irgendwann verschwanden die Gefühle wieder. Hinausbrechen taten sie nie, dafür hielt meine Fassade zu stramm. Einatmen, ausatmen, und die Geschichte hatte sich erledigt. Ja, aber jetzt? Wie war das alles so hemmungslos zu Tage getreten, ohne sich anzukündigen und ohne mich zu warnen?
Carlos atmete sichtlich überfordert ein und biss sich auf die Lippe, dann meinte er betreten: „Willst du darüber reden?" Verdattert sah ich dem jungen Mann in die Augen und hielt Drogheda an, die bis jetzt brav weiter im Kreis gegangen war. Einen Moment lang zweifelte ich daran, dass er es ernst meinte. Niemand liess sich gerne von Problemen zuschütten, schon gar nicht von Problemen, die fremde Leute betrafen. Das hatte mein Vater mir beigebracht, und mit seinem Grundsatz war ich immer gut gefahren. Aber Carlos schien es ernst zu meinen, denn in seiner Miene lag ein ehrlicher Ausdruck. Er würde mir zuhören. Alles schlucken, damit ich es rauslassen konnte. Wollte ich darüber reden? Die Aussicht darauf, jemandem zu erzählen, was das alles mit mir gemacht hatte, war verlockend. Die Geschichte dahinter interessierte ihn nicht, das hatte er mir bereits gesagt. Und diese Geschichte hatte ich ja wirklich schon zum Davonlaufen oft erzählen müssen. Aber nie, was es mit mir gemacht hatte. Die Albträume, die Vorwürfe, die anklagende Stimme meines Vaters, die mich überallhin verfolgte.
Schon öffnete ich den Mund, doch etwas liess mich innehalten, nachdenken und dann neu ansetzen. Den Kopf schüttelnd und mich zu einem Lächeln zwingend erwiderte ich: „Danke. Danke vielmals. Aber nein. Mich sollte das nicht definieren, das hast du richtig gesagt. Also lasse ich nicht länger zu, dass es das tut!" Es war schliesslich nur ein Name. Auf Carlos Lippen erschien kein Lächeln, aber er nickte verständnisvoll. Während dem ich abstieg und Drogheda die Steigbügel hochschnallte, sah ich nochmals zurück zum Hindernis und glaubte, weit hinter ihm, jenseits das Zauns, verschwindend schemenartig zwischen den Stämmen des kleinen Wäldchens, das den Hof säumte, die Gestalt eines zierlichen, schwarzen Pferdes zu sehen. Es bewegte sich nicht, es gab keinen Laut von sich, es stand nur da.
„Weisst du, ich glaube, ich muss mich irgendwie bei dir bedanken, dass du mir heute so geholfen hast", hörte ich Carlos sagen und fuhr fast ein wenig erschrocken zu ihm herum. Der junge Mann nahm mir Droghedas Zügel ab, ungeachtet dessen, dass die Stute ihm mit einer einzigen Bewegung ihres verschmierten Mauls das schöne weisse Turnierhemd ruinieren könnte. "Danken?", wiederholte ich verwirrt, Carlos nickte. „Ja, danken. Würde es dich freuen, bei mir eine Springstunde zu nehmen? Ich bin zwar kein Trainer, aber dich über ein paar Hindernisse lotsen, das werde ich auch noch schaffen. Wenn man bedenkt, wo du schon überall geritten bist..."
Mir fiel beinahe die Kinnlade hinunter und ich konnte mich nur mit Mühen beherrschen, ihm nicht auf der Stelle um den Hals zu fallen. „Echt jetzt? Das wäre richtig toll!", freute ich mich. In meinem Unterbewusstsein warnte mich eine leise Stimme vor etwas, das ich nicht verstehen konnte, also ignorierte ich sie und folgte Carlos zum Ausgang des Platzes. Ein Knacken liess mich mich noch einmal umdrehen und zum Wäldchen rüberblicken, aber da war nichts.

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