𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟒𝟒: 𝐄𝐢𝐧 𝐓𝐮𝐩𝐟𝐞𝐫 𝐋𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐢𝐦 𝐃𝐮𝐧𝐤𝐞𝐥

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So sehr ich mich auch dafür schämte, es tat weh, Papa an meinem achtzehnten Geburtstag nicht um mich zu haben. Ich vermisste seine Präsenz - nicht die des Mannes, den ich vor diesem nun bereits vergehenden Sommer verraten hatte, sondern die des Vaters, der nicht eine Sekunde des Lebens seiner nun erwachsenen Tochter verpasst hatte. Und trotzdem schaffte ich es fast nicht, den Anruf entgegenzunehmen, als er dann endlich kam.
Noch bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich leises Piepsen und knisternde, flache Atmenzüge. „Hallo?", sprach ich mit zitternden Händen in mein Handy, halb in der Erwartung, nur jemanden in der Leitung zu haben, der mir mitteilte, dass mein Vater doch gestorben war. Aber dann erklang seine heisere Stimme an meinem Ohr, und mir war, als würde jemand meinen Brustkorb zusammenpressen, so schwach klang er. „Sereina, bist du das?", fragte er leise. Mühsam schluckte ich die Tränen und den Kloss in meinem Hals hinunter und erwiderte: „Ja, ich bin's, Papa. Schön, dass du anrufst." Ein kaum hörbares Lachen. „Denkst du, ich würde etwa deinen Geburtstag vergessen, principessa mia? Den hab' ich doch noch nie vergessen! Ich bin zwar etwas verspätet, aber ich hoffe, das kannst du mir verzeihen." Hastig nickte ich, bevor ich merkte, dass er das ja nicht sehen konnte. „Ja, ja, kein Problem. Du kannst ja nichts dafür", beteuerte ich. Ich hatte erst gar nicht geglaubt, überhaupt noch etwas von ihm zu hören. Zuerst, weil ich damit gerechnet hatte, er würde die selbst zugefügte Medikamentenüberdosis schlichtweg nicht überleben, dann, weil ich mir sicher war, er würde nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollen. Schliesslich war ich der Grund, weshalb er sich versucht hatte das Leben nehmen. Die Tochter, die ihn zweimal von sich gestossen hatte, beide Male so grob, wie es überhaupt nur möglich war.
„Wie geht es dir denn?", schaffte ich es, nachzuhaken. Noch gestern Abend hatte ich ungläubig Mattias Nachricht gelesen, dass er aus seinem Koma aufgewacht war. Als hätte eine innere Uhr darauf gewartet, ihn an meinem Geburtstag zu wecken. Zumindest gab ich mich diesem Gedanken hin. Papa seufzte, dann meinte er: „Bin etwas müde, aber sonst fühle ich mich ganz okay. Kommt vielleicht von dem Zeugs, das sie mir geben..." Beinahe hätte ich bitter geantwortet, dass es vielleicht auch einfach die zwei Packungen Beruhigungsmittel waren, die er geschluckt hatte, doch meine Bitterkeit wurde noch im selben Moment durch tiefe Traurigkeit ersetzt. „War es meine Schuld, Papa?", fragte ich, weil ich es wissen musste. „Hast du dich meinetwegen umbringen wollen?" Erst antwortete er nicht, als wäre ihm die Frage im wahrsten Sinne des Wortes zu schwer. Nur schwerfälliges Atmen drang zu mir auf die andere Seite. Dann aber raschelte etwas, vielleicht eine Decke, und mein Vater holte tief Luft. „Nicht nur du, nein. Es war einfach alles. Ich hatte das Gefühl, dass alles in die Brüche gegangen ist, was mir je wichtig war. Und dass ihr mich auf diesem Scherbenhaufen sitzenlassen wollt. Wenn die ganze Welt einen für ein Monster hält und man dann realisiert, dass die eigenen Kinder das auch tun, dann..." Er brach zögernd ab. „Dann bleibt nichts mehr."
Mir entfuhr in die Stille hinein ein hilfloses Schniefen, das Aspen zu meinen Füssen leise winseln liess. Der graue Hund lag am Tor der Weide, auf deren Zaun ich sass, und wandte den Blick nun von den grasenden Pferden zu mir. „Also war doch ich es?", schlussfolgerte ich mit belegter Stimme, Papa stiess ein weiteres Seufzen aus. „Ich will nicht, dass du dir dafür die Schuld gibst, okay?", entgegnete er erstaunlich gefestigt, „Ich habe keine Ahnung, was in mich fahren konnte, das zu tun, ich weiss nur, dass ich es nicht nochmal machen würde." Mit Mühe unterdrückte ich ein Schluchzen und presste eine Hand auf meinen Mund, als könnte ich damit verhindern, dass alles andere, was mir das Atmen schwerer und schwerer machte, auch hinausdrang. „Es tut mir so Leid, Papa", wimmerte ich, das Bild der Weide vor meinen Augen verschwimmend. „All die schrecklichen Sachen, die ich gesagt habe, das... Ich wünschte, ich hätte sie nie gesagt."
Mein Vater lachte lustlos. „Schon gut. Ich kann dich ja verstehen. Ich möchte nur, dass du weisst, dass ab jetzt alles anders wird. Ob du mir dieses Versprechen abnehmen willst, liegt bei dir, und wenn du es mir nicht glauben kannst, nehme ich dir das auch nicht übel. Nach allem, was ich getan habe..." Gerne hätte ich ihm auf der Stelle geantwortet, dass ich ihm das Versprechen freilich abnahm und ihm glauben wollte - ich wollte ja auch. Doch dann zögerte ich eine Sekunde zu lang, und schon war es zu spät. Ja, ich wollte. Aber konnte ich? Jetzt noch, wo mein Vater aus dem Krankenhaus zu mir sprach, mit vom Koma schwacher Stimme und voller Reue, übertrumpfte Mitleid das warnende Brennen meiner alten Wunden. Würde es das auch noch dann, wenn der Schrecken seines Selbstmordversuches verflogen war? Würde ich dann immer noch Mitleid mit diesem Mann haben, der nicht nur für das Leid dutzender Pferde, sondern schlussendlich auch für mein eigenes verantwortlich war?
„Sereina?" Die Art, wie Papa meinen Namen aussprach, liess mich in der kühlen Septemberbrise frösteln. Ängstlich wie ein Kind, ahnungsvoll wie ein zum Tode Verurteilter. Zitternd holte ich Luft. „Kannst du mir das überhaupt versprechen? Kannst du mir versprechen, dass dieses Mal alles anders wird? Meinst du es wirklich so, oder sagst du es nur so dahin? Wenn es dir nicht ernst ist, dann sag' es mir bitte jetzt gleich, nochmal kann ich das alles nämlich nicht", sprach ich in mein Handy, mir über die feuchten Augen wischend. Während dem ich mich tiefer in Mamas geliehene Jacke kuschelte, erwartete ich fast, silberne Wolken vor meinem Mund erscheinen zu sehen, so kalt wurde mir auf einmal. Ich wünschte mir stumm, Lacrima oder eines der andern Pferde würde rüberkommen, damit ich meine Hände in ihrem langsam flauschiger werdenden Fell vergraben konnte, doch die Herde war zu sehr mit den letzten saftigen Grashappen des Tages beschäftigt, um mich auch nur zu beachten.
„Ich...", begann mein Vater zögerlich, brach jedoch ab, als wüsste er nicht genau, was er sagen sollte - mich überkam ein eigenartiges, schales Gefühl, in dem ich eine Note der Enttäuschung zu erkennen glaubte. Nein, er meinte es nicht so. Nein, es würde sich nichts ändern. Was hatte ich denn anderes erwartet? „Schon gut", murmelte ich leise. Jegliche Lust darauf, ihm Vorwürfe zu machen, war längst verflogen, nur Resignation mischte sich unter das Mitleid, die Scham und die Reue. Gerade, als ich bereit war zu glauben, er würde sich geschlagen geben, setzte Papa nochmals neu an. Er stöhnte leise und beschwor dann: „Sereina, ich weiss, dass dieses ganze Chaos allein meine Schuld ist. Aber bitte, glaub' mir, wenn ich dir sage, dass ich das alles nicht wollte. Ich kenne meine Fehler, aber ich wollte das nie so. Ich wollte nie, dass du mir eines Tages etwas derartiges verzeihen musst. Und trotzdem sind wir hier. Mehr als ein Versprechen habe ich nicht mehr zu geben. Mir ist schlecht ab mir selbst und ich glaube, wenn ich noch eine letzte Lüge erzähle, um mir deine Verzeihung zu erschwindeln, dann kann ich gar nicht mehr in den Spiegel sehen. Aber wie gesagt, wenn du mein Versprechen nicht annehmen willst, dann will ich dich auch nicht dazu zwingen. Nimm Clarety und schliess' deinen Frieden mit all dem, ich werde dich nicht länger behelligen."
Stumm umklammerte ich mein Handy und blickte auf die Weide hinaus. Zehn dürre Pferde, friedlich grasend, Sonnenlicht, das von den Berghängen hinabfloss. Es sah wunderschön, schrecklich, fröhlich und leer aus, alles zugleich - mir war, als müsste ich mich übergeben, weinen und lachen, auch alles zugleich. Schliesslich schaffte ich es, meine verkrampften Lippen zu Worten zu formen. „Das will ich nicht", flüsterte ich und schniefte. Ich erwartete Tränen, wo keine kamen; ein Heulen, wo keines erklang. Nichts. Nur ein zittriger Atemzug und ein Hüpfer, den mein Herz tat, während dem ich lauschte. „Was willst du nicht?", hörte ich meinen Vater verwirrt sagen. Seine Stimme bebte ebenso wie meine Hände es taten. Das Hämmern meines Pulses setzte einen Schlag lang aus, zumindest fühlte es sich so an. „Ich will damit nicht meinen Frieden schliessen", erwiderte ich, und nun quollen doch die angestauten Tränen aus meinen Augen hervor. „Ich will nicht einfach Clarety nehmen und dann nichts mehr von dir hören. Ich will dich nicht noch ein drittes Mal von mir stossen."
Erst herrschte ein paar Sekunden Stille, in denen ich nur mein eigenes, leises Weinen hörte, dann drang unvermittelt ein Schluchzen an mein Ohr. „Also glaubst du mir?", schlussfolgerte mein Vater mit nun stolpernder und strauchelnder, fast schon erstickter Stimme. Hastig nickte ich, schluckte den Kloss in meinem Hals hinunter. „Ja, ich glaube dir! Aber nur, wenn du mir auch versprichst, dass du so etwas nie wieder tust. Nie wieder", antwortete ich, ohne so recht zu wissen, ob ich den versuchten Selbstmord oder alles davor meinte. Ja, ich glaubte ihm. Es war kein Gefühl, denn mein Gefühl riet mir eigentlich etwas anderes; es war eine Entscheidung. Ich wollte ihm glauben, und ich ignorierte all die bösen Erinnerungen, die mich davor warnten. Zu gut fühlte sich auf einmal die Gewissheit an, dass eine Versöhnung möglich und zum Greifen nah war. Mein Vater hatte mich enttäuscht, aber er war mein Vater. Ein Monster, vielleicht, aber wenn, dann eines mit dem Herzen eines Menschen. Wenn er vergessen konnte, wie sehr ich ihn verletzt hatte, dann konnte ich das auch. „Egal, was, ich tu's!", versprach er und klang dabei plötzlich überglücklich, auch wenn seine Stimme immer noch bebte. „Ich verspreche dir, dass ich mit diesem Kapitel abschliesse. So, wie du. Wir zwei, wir können zusammen nochmal neu anfangen! Und diesmal wird alles besser, du wirst sehen!"
Ein Gewicht schien von meiner Brust zu weichen, ich nahm einen tiefen, befreiten Atemzug. Oder halb befreit, denn etwas drückte immer noch gegen meine Kehle. „Du, Papa, ich...", begann ich und seufzte. „Es tut mir Leid, aber ich hoffe, es ist in Ordnung für dich, wenn ich trotzdem bei meiner Mutter bleibe." Keine Antwort, ich stellte mir vor, wie sein fröhliches Strahlen erstarb. „Natürlich komme ich dich besuchen, so oft ich kann, das verspreche ich. Aber ich glaube, ich kann hier einfach nochmal neu anfangen, weisst du?", fügte ich hinzu. Ihm das jetzt nochmals zu sagen, fühlte sich wichtig aber trotzdem seltsam an. Ich wollte nicht wieder zurück ins Münsterland, das hatte ich schon klargestellt. Ich wollte nicht wieder in die alten Muster verfallen, nicht wieder in das alte Fahrwasser geraten. Und ich wollte auch nicht mit meinem Bruder nach Aachen, denn es wären genau dieselben Muster, genau dasselbe Fahrwasser, dem ich nur so mühsam entkommen war.
Schon dachte ich, er würde gar nicht mehr antworten, doch nach einigen Sekunden räusperte mein Vater sich und meinte etwas heiser: „Sicher, das ist deine Entscheidung. Ich kann es dir nicht verübeln. Deine Mutter hatte immer ein Talent dafür, einem das Gefühl zu geben, zu Hause zu sein." Ich konnte eine Spur Wehmut aus seiner Stimme heraushören, die mein Herz sich einen Moment lang verkrampfen liess. „Aber du kommst mich wirklich besuchen, oder?" Leise seufzte ich. „Natürlich, Papa, hab' keine Angst!" Mir war, als atmete mein Vater am andern Ende der Leitung auf, denn als er wieder zu sprechen begann, waren Fröhlichkeit und Tatendrang in seine Worte zurückgekehrt. „Wie wär's, wenn du noch dieses Jahr vorbeikommst? Im Winter, wenn ich wieder aus dem Gefängnis rausdarf? Wir könnten zusammen wegfahren und dann Clarety holen gehen! Wie fändest du das?", schlug er eifrig vor, ich hörte im Hintergrund erneut rascheln, wie wenn er sich in seinem Bett aufrichten würde.
Gleichzeitig durchfuhren mich Freude und Schmerz. Natürlich wollte ich ihn besuchen, sobald er aus dem Gefängnis war. Aber noch bis im Winter warten, um Clarety wiederzuhaben? Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass jetzt, wo ich wusste, wo sie war, alles ganz schnell gehen konnte. Am liebsten hätte ich sie schon längst hergeholt. Aber als mein Vater das so sagte, wurde mir klar, dass es nicht so leicht war. Ich konnte nicht einfach nach Deutschland fahren und sie holen gehen. Ich brauchte Papas Geld. Und ich brauchte seinen Charme, denn wer sagte, dass Markus Heller meine Clarety wieder rausrücken würde? Weder war es fair, noch leicht für mich, aber sie gehörte jetzt ihm. Wenn ich alleine aufkreuzte, würde ich vermutlich mit leeren Händen wieder über die Grenze kommen. Deshalb schluckte ich meinen Schmerz hinunter und unterdrückte den Reflex, auf eine baldigere Fahrt zu drängen. „Klar! Das klingt toll!", erwiderte ich bemüht heiter, obwohl sich die Worte auf meiner Zunge bitter anfühlten. „Schön!", freute mein Vater sich. Danach entstand eine eigenartige Pause, in der keiner etwas sagte, wohl weil einen Moment lang keiner das Gefühl hatte, dass etwas gesagt werden müsste.
Schliesslich war ich es, die das Schweigen wieder brach: Wehmütig lächelte ich, wischte mir über das feuchte Gesicht und fragte: „Hab' ich dir eigentlich je gesagt, dass ich dich lieb' habe, Papa?" Wenn ja, konnte ich mich nicht daran erinnern. Ich konnte mich nur daran erinnern, wie sehr ich stets auf mich selbst konzentriert gewesen war. Dass meine Pferde darunter gelitten hatten, wusste ich schon längst, aber mir fiel zum ersten Mal ein, dass die vielleicht nicht die einzigen gewesen waren. Ich hatte meinen Vater geliebt, und ich liebte ihn immer noch, schliesslich war er mein Vater, aber gesagt hatte ich das nie. Nicht einmal gedacht. Ihn das jetzt fragen zu müssen, ging mir nicht leicht vom Herzen - es zog und krampfte und hatte irgendwie Angst davor, nach all dem Geschehenen jetzt solche Türen zu öffnen. Doch Papa antwortete nicht mit dem Nein, das ich erwartet hatte. „Ich hab' dich auch lieb, Sereina. Vergiss das nicht, ja?"

ErlkönigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt