𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟒𝟎: 𝐆𝐞𝐛𝐞𝐧 𝐮𝐧𝐝 𝐍𝐞𝐡𝐦𝐞𝐧

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Urs kam am frühen Abend zurück, ohne Lacrima. Die grosse Fuchsstute nicht bei ihm zu sehen, sondern nur den gähnend leeren Anhänger, löste im ersten Moment Panik bei mir aus. Dann jedoch sah ich in das Gesicht des Bauern, und mir wurde klar, dass es nicht so schlecht aussehen konnte. Vielleicht ernst, doch nicht aussichtslos. Immerhin erhoffte ich mir das. „Und, was ist mit ihr? Geht es ihr gut?", bombardierte ich ihn sofort mit Fragen, noch bevor er das Haus betreten oder einen von uns begrüssen konnte. Wohl, weil sie meine aufgeregte Stimme gehört hatten, rannten Elin und Fabienne aus dem Wohnzimmer herbei, und ehe Urs seine Schuhe ausgezogen hatte, war er von einer quasselnden Meute umgeben, die ihm kaum Platz zum Atmen gab. Aus den Augenwinkeln konnte ich sogar Rahel und Rebekka sehen, die schüchtern schweigend im Türrahmen standen. In den letzten Tagen waren sie immer stiller geworden und auch jetzt traute sich keine der beiden, den Mund aufzumachen, obwohl die schmerzhafte Neugierde auch bei ihnen unverkennbar war.
„Okay, lönd mi zerscht mal abhoggä!", forderte Urs mit einem schwachen Grinsen, sich zwischen uns durchschiebend, und setzte sich an den Küchentisch. Erst jetzt sah ich die Müdigkeit in seinen eingesunkenen Augen und wieder wurde mir bang ums Herz. „Und?", fragte Mama, während dem sie sich neben ihn setzte. Urs sah einmal schweigend in die Runde, dann meinte er: „Tja, als wir gestern angekommen sind, haben sie sie gleich an eine Bluttransfusion angeschlossen. Die Blutung hat nach etwa einer halben Stunde dann von allein aufgehört, sodass sie sie untersuchen konnten, aber fressen wollte sie nichts und etwa um Mitternacht hat sie dann wieder angefangen zu bluten. Die Tierärzte haben sie ein erstes Mal operiert, um das Gefäss abzuklemmen, aber die grössere OP steht ihr noch bevor und sie kriegen sie im Moment einfach nicht stabil genug."
Mir entfuhr ein resigniertes Seufzen und ich sank nieder auf die Bank neben Urs. Das klang nicht gut. Nicht scheisse, aber auch nicht gut. „Was hat sie denn jetzt? Wissen die das?", wollte Fabienne wissen. Sie war irgendwann heute Morgen aufgewacht und hatte feststellen müssen, dass Lacrima fehlt. Den Schrecken, den unsere Schilderung des gestrigen Abends hinterlassen hatten, sah man ihr jetzt noch an, auch wenn sie mittlerweile wieder gefasst war. Ihr Vater zwickte ihr sanft in die linke Wange und versuchte, zu lächeln. „Ich bin mir nicht mehr sicher, wie es heisst. Sie haben es mir vor Ort jedenfalls gut erklärt. Beim Gestüt Zanugg muss sie sich wohl einen Schimmelpilz eingefangen haben, der sich im Luftsack angesiedelt hat. Das Nasenbluten hatte sie, weil der Pilz eines oder mehrere der umliegenden Gefässe durchlöchert hat. Mit dem Endoskop hat der Arzt auch eine kleine Ansammlung auf einem Nerv gefunden, deshalb hat sie wahrscheinlich so unsauber gefressen." Elin neben mir verzog das Gesicht. „Bah, das klingt ja widerlich! Also hat sie, und die andern vielleicht auch, Pilze eingeatmet?", entsetzte sie sich. Ihr Ausdruck spiegelte wider, wie eklig sie die Vorstellung fand. Und ganz ehrlich gesagt klang es auch für mich nicht gerade angenehm. Urs nickte. „Ja, offenbar. Man hat mir empfohlen, die andern Pferde gut zu überwachen und nach Symptomen Ausschau zu halten, damit..." Zögerlich brach er ab, aber er brauchte den Satz nicht zu beenden. Damit wir beim nächsten Mal schneller reagieren konnten. Damit uns nicht doch noch eines im Stall verblutete.
„Und jetzt? Wie geht es mit Lacrima weiter?", fragte meine Mutter leise und sprach damit aus, was wir alle wissen wollten. „Also, da wäre natürlich diese zweite Operation. Sie würden alle Gefässe, die den Pilz noch versorgen, ebenfalls abklemmen, damit der von alleine abstirbt. Im Tierspital hat man mir gesagt, ich solle aber auch die Möglichkeit besprechen, sie einzuschläfern. Weil sie schon alt ist und die Operation nicht ganz ungefährlich. Und auch nicht ganz billig." Ich schluckte hart. Einschläfern. Das konnten sie doch nicht machen. Lacrima verdiente es, noch lange und glücklich zu leben. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, durfte es so nicht enden. Hilfesuchend sah ich zu Mama rüber, doch ein Blick in ihre resignierten Augen reichte mir, um festzustellen, dass sie mich nicht unterstützen würde. „Ja, vielleicht...vielleicht wäre es so das Beste", meinte sie leise und liess die Stirn auf ihre Hand sinken. Dreimal entsetztes Schnappen nach Luft, Elin war die Erste, die den Mund aufbekam. „Hast du sie noch alle?", fuhr sie Mama an, „Willst du sie einfach so aufgeben? Das Geld besorgen wir schon irgendwie, und sie schafft das schon! Du hast gesagt, sie würde die Fahrt nicht überleben, aber das hat sie! Und jetzt überlebt sie auch das hier!"
Beinahe glaubte ich, Stolz in Urs' Miene erkennen zu können, als er seiner älteren Tochter auf die Schulter klopfte und sich räusperte. Erwartungsvoll sahen wir alle ihn an. Schliesslich sagte er nur: „Das Geld besorgen wir schon irgendwie, da hast du Recht." Meine Mutter setzte fast beleidigt zu einer Entgegnung an, doch der bärtige Mann liess sie nicht. „Verena, ich weiss, was du sagen willst. Aber wir haben diesem Pferd versprochen, dass wir ihr helfen. Sonst hätten wir sie auch gleich in ihrem Loch lassen können. Ich hab' ihr in die Augen gesehen, und eins kann ich dir sagen: Sterben will sie nicht. Also, wenn du jetzt von mir verlangst, dass ich dort anrufe und denen sage, dass sie sie einschläfern sollen, dann mach' ich das, aber verantworten musst du es", stellte er in erschreckend gelassenem Ton klar. Peinlich berührtes Schweigen breitete sich aus, Mama sah Urs einfach nur fassungslos an. Dann senkte sie den Blick, stand auf und verliess wortlos die Küche. In einer Mischung zwischen betreten und unsicher lauschten wir ihren Schritten, bis sie ins Freie getreten war. Als die Haustüre sich wieder schloss, stiess Elin ein kurzes Lachen aus und meinte: „Du, Bapi, dir isch klar, dass ds Grosi etzt wür sägä, dass das genau der Grund isch, warum du nie hättisch söllä Puur werdä?"
Alle begannen unsicher zu lachen, obwohl ich Mamas hochgewachsene Silhouette durch die Vorhänge am Fenster mir gegenüber sehen konnte, wie sie mit dem Rücken zum Haus dastand und einfach nur atmete. Es war offensichtlich, dass es ihr nicht gut ging und wir ihr jetzt nur noch ein schlechtes Gewissen gemacht hatten, aber die Erleichterung darüber, dass immerhin der Rest der Schmuckis meiner Meinung war, liess keine Reue und kein Mitleid zu. Urs hatte Recht in allem, was er gesagt hatte, und Mama wollte, wieder einmal, zu früh aufgeben. „Denkt ihr wirklich, sie schafft das?", fragte ich zögerlich in die Runde. Auf einmal schämte ich mich dafür, gestern nicht mitgefahren zu sein. Ich hatte ihr keine Kraft spenden können. Ich war nicht da gewesen, um sie zu beruhigen. Auch, wenn der Gedanke daran, dass es ihr jetzt vielleicht besser gehen würde, wenn ich da gewesen wäre, sich irgendwie arrogant anfühlte, gab ich mich der Vorstellung hin, dass es etwas bewirkt hätte. Das half meinem Gewissen zwar nicht weiter, aber die andere Möglichkeit wäre gewesen, mir einzugestehen, dass ich Lacrima nichts bedeutete, und das schmerzte fast noch mehr. Ich hatte so vielen Pferden nichts bedeutet. Mein halbes Leben schon war ich für die Tiere um mich herum nichts weiter gewesen als ein launisches Ding mit Gerte, Sporen und harten Händen. Dieses eine Mal hätte es anders sein können. Jetzt durfte sie nicht sterben. Urs' besänftigender Blick richtete sich auf mich und er zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. „Elin hat es doch schon gesagt, nicht?", meinte er hoffnungsvoll. „Sie hat es soweit geschafft, da schafft sie den Rest auch noch."

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