𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟑𝟎: 𝐖𝐞𝐫𝐭𝐯𝐨𝐥𝐥

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All unsere Sorge schien unbegründet – als Lacrima wieder auf dem Erlhof ankam, war sie so munter wie nie zuvor. Obwohl die rasierte Stelle an ihrem Hals und das grosse Pflaster, das das Loch in ihrer Wange bedeckte, daran erinnerten, dass sie vor zwei Tagen noch mit einer Zange im Mund im Tierspital gestanden hatte, strahlten ihre Augen mit mehr Leuchtkraft, als ich je in ihnen gesehen hatte. Sie sah frisch aus, kerngesund. Und glücklich darüber, wieder auf dem Erlhof zu sein. Kaum hatte Mama sie ausgeladen, liess sie ein schmetterndes Wiehern hören, das quer über den ganzen Innenhof schallte und drinnen im Stall ein ganzes Konzert auslöste.
„Holla, da freut sich aber jemand darüber, wieder zurück zu sein!", lachte Urs, während dem er die Anhängerklappe wieder schloss. Fröhlich ging ich rüber zu der alten Stute und konnte nicht anders, als breit zu strahlen, als sie zu mir rüberzog und mich sanft anstupste. „Schön, dass du wieder da bist!", flüsterte ich gegen ihre Nase, die sich mir entgegenstreckte. Warmer Atem strich über mein Gesicht und Lacrima stiess ein tiefes, zufriedenes Brummeln aus, das machte, dass mein Herz einen Hüpfer tat. „Du bist diesem Klepper vollends verfallen!", neckte mich meine innere Stimme, doch nicht einmal sie klang bitter oder höhnend – sie schien mit mir zu strahlen.
„Wie wär's, wenn du sie auf einen kleinen Spaziergang mitnimmst? Doktor Möller hat gesagt, dass leichte Bewegung ihr guttun würde", schlug meine Mutter vor und streckte mir den Strick entgegen. Ich drehte mich kurz zu ihr um, die Hände von Lacrimas Kopf senkend. „Klar, gerne!", erwiderte ich möglichst belanglos, doch es gelang mir nicht vollends, das Gefühl zu kaschieren, das mir den Eindruck gab, meine Brust müsste jeden Moment platzen. Nur mit viel Mühe konnte ich meine Mundwinkel in einer Position halten, die nicht vollends an das breite, leicht dümmliche Grinsen von Fabienne erinnerte. Es war alles überhaupt keine grosse Sache. Lacrima war nur zwei Tage fort gewesen, und doch hatte ihre Rückkehr etwas zutiefst Beflügelndes.
Als ich von Mama den Strick entgegennahm, Urs im Vorbeigehen mir zuzwinkern sah und dann die dürre Fuchsstute behutsam in Richtung Ausfahrt führte, fühlten sich meine Füsse an, als würden sie über Wolken tanzen. Ich blickte zu Lacrima rüber, sah ihr freundliches Gesicht und ihre gespitzten Ohren, und presste die Lippen aufeinander, um nicht aus vollstem Glück zu lachen. Die von Schlaglöchern übersähte Schotterpiste, das kleine Quartier dahinter, alles erschien mir plötzlich lieblich und schön. Lächelnd lauschte ich auf das Klappern von Lacrimas Hufen auf dem Teer, grüsste kleine Kinder, die mir aus den Gärten zuwinkten und hielt sogar kurz an, als ein altes Paar bewundern die Augen auf die alte Stute richtete.
„Ja was bisch du dänn für ä Hübsches?", freute sich die Frau mit krächzender Stimme und streckte eine zitternde Hand nach Lacrimas Stirn aus. Diese schnaubte nur und trat den beiden Leuten einen Schritt entgegen. „Wiä heisst sie?", fragte der Mann, der sich auf zwei Wanderstöcke stützte. Ich knetete den Strick in meinen Händen und tätschelte der Stute den mageren Hals. „Lacrima", sprach ich ihren Namen aus und genoss seinen Klang, als die beiden Senioren ihn wiederholten. Es erfüllte mich mit einer seltsamen Art von Stolz, dazustehen, sie zu halten und zu sehen, wie jemand Freude an ihr hatte. Ich nickte, als sie immer und immer wieder betonten, wie hübsch sie doch sei, und merkte, wie ich nach dem dritten Mal, dass sie mir dieselbe Frage stellten, damit aufhörte, zu erklären, dass sie nicht mein Pferd sei, sondern nur noch zustimmend das Gesicht verzog. Ja, irgendwie war sie doch mein Pferd. Die Vorstellung gefiel mir. Sofort jedoch schalt ich mich dafür, so zu denken, während dem Clarety, mein echtes Pferd, weiss Gott wo war, wahrscheinlich meilenweit entfernt. Und dann verabschiedete sich das alte Paar wieder, ich setzte mich wieder in Bewegung, hörte wieder das Hufgeklapper und sah wieder Lacrimas wunderbaren Kopf im Takt ihrer Schritte schaukeln, und meine Scham verflog.
Während dem wir das Quartier hinter uns liessen und in Richtung Büchel schlenderten, versuchte ich mich daran zu erinnern, was es gewesen war, das mit mir das angestellt hatte. Ich erinnerte mich an die Frage, die die Gestalt meines Vaters mir entgegengeschleudert hatte, und stellte sie mir auf einmal selbst. Den Strick, an dem Lacrima seelenruhig ging, lose in der Hand haltend, beobachtete ich die Stute. Wie sie die rosafarbene Nase der Brise entgegenstreckte, die den Geruch von trocknendem Heu mit sich trug, wie sie das Haupt nach dem Geräusch von raschelnden Baumkronen umdrehte. In meinem Kopf tauchten wieder die Bilder auf, wie sie in ihrem eigenen Dreck gelegen hatte. Bilder eines vor sich hinsiechenden, sterbenden Tiers, das nach Tod stank und so aussah, als wäre es der Welt der Lebenden schon längst entglitten.
Hastig blinzelte ich die grotesken Erinnerungen weg, doch die Frage blieb. Warum sie? Sie war nicht das, was ich mir ausgesucht hätte. Sie war nicht einmal annähernd das, womit ich mich jahrelang umgeben hatte. Sie war alt und verbraucht. Nicht so schillernd wie die Pferde, die ich geritten und besessen hatte. Mein Vater hätte sie in seinem Pragmatismus als wertlos bezeichnet. Er hätte sie schlachten lassen, ohne Zweifel. Er hätte es sogar als einen Akt der Gnade gesehen. „Lass dieses arme Tier nicht noch länger leiden. Sie ist müde. Erspare ihr die Qualen ihres erschöpften Körpers", glaubte ich ihn sagen zu hören, aber nur schwach und fern, denn die Erkenntnis, die in mir wuchs, war lauter. Sie war nicht wertlos, nur weil sie im Dreck gelegen hatte. Sie war nicht beschädigt, nur weil die Tage ihrer Blütezeit vorbei waren. Während dem ich das begriff, ging plötzlich ein Ruck durch mich und ich hatte das Gefühl, etwas zerschnitten zu haben. Eine Sekunde verstrich, in der ich wie in Watte gepackt das Knirschen meiner Füsse hörte und die feurig rote Silhouette Lacrimas sah. Noch eine, und noch eine. Und dann wurde mir bewusst, was ich zerschnitten hatte – die Fesseln, die mir mein Vater über die Jahre hinweg auferlegt hatte. Ich war frei von Gier und Kaltherzigkeit. Frei von Hass und Scham. Frei vom Gift seiner Taten.

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