Rahel und Rebekka heimzuschicken stand nicht zur Diskussion. Niemand redete darüber, niemand zog es auch nur in Erwägung. Also blieben sie auf dem Erlhof, übernachteten auf provisorischen Betten im Wohnzimmer und assen stillschweigend mit uns am Tisch, an dem so schon kaum Platz gewesen war. Um auch ja nicht zur Last zu fallen, arbeiteten die beiden unermüdlich im Stall oder in der Küche – absolut nichts konnte verrichtet werden, ohne dass eine der Schwestern mit fiebrig hoffnungsvollem Ausdruck nach einer zweiten Mistgabel fragte oder einen zweiten Lappen ergriff. Es war, als hätten sie das Gefühl, sie könnten nur hier bleiben, wenn sie Kost und Logis irgendwie abbezahlten, und da sie kein Geld mehr hatten, war ihre Arbeitskraft das einzige von Wert, was sie noch besassen. Damit es ihnen nicht allzu schlecht ging, wollte Mama, dass wir sie so oft es ging bei den Pferden einspannten. „Das lenkt sie ein wenig ab, und schliesslich können wir immer jemanden brauchen, der unsere Schützlinge putzt", hatte sie mit ernster Miene gemeint.
Nach kurzer Zeit zeichnete sich ein klares Muster ab, das unmissverständlich zeigte, dass die beiden Mädchen ganz offensichtlich ihre Lieblinge gefunden hatten. Rahel blühte jedes Mal ein klein wenig auf, wenn sie Baelish aus der Box holte, und Rebekka schien sich mit schierer Verzweiflung an den frechen Ganymed zu klammern. Doch sie waren nicht die einzigen, die den Narren an unsern Schützlingen gefressen hatten: Elin hatte nur Augen für Boudicca, obwohl die offenbar absolut kein Interesse an Elin hatte. Manchmal, wenn Hadeel für eine Reitstunde vorbeikam und Dylonia aus dem Stall holte, warf sie Jeriga eigenartige Blicke zu und verabschiedete sich von ihr, als hätte sie gerade sie geritten, und nicht die träge Friesenstute. Meine Mutter kümmerte sich besonders um die arme Moses, die sich nach wie vor zitternd in der hintersten Ecke ihrer Box verkroch und einfach nicht zunehmen wollte. Urs war, neben Mama, der einzige, der Birdcatcher rausholte, da wir andern nicht mit dem nervösen Apfelschimmel zurechtkamen. Fabienne und Giuanna waren eher weniger angefixt, sie schenkten allen gleichsam ihre Aufmerksamkeit, wenn auch Oneida und Baelish tendenziell am üppigsten beschenkt wurden. Und ich konnte mich, obwohl ich es versucht hatte, nicht so recht von Lacrima und ihrem Sohn Awan losreissen. Die beiden grossen Füchse waren die Ersten, die ich am Morgen begrüsste, und die letzten, denen ich am Abend noch einmal die Nase kraulte, bevor ich nach oben uns Bett ging und noch stundenlang das Gefühl ihres warmen Atems auf meinem Gesicht spüren konnte.
Es fühlte sich seltsam an, fast ungewohnt, denn in einem Stall wie dem meines Vaters hätte ich den beiden wahrscheinlich lediglich ein trockenes Blinzeln zugeworfen, bevor ich mich wieder den eleganteren Pferden zuwandte, die ich mein eigen hatte nennen können. Und jetzt...
„Zu schade, dass ihr sie wieder weggebt. Es wäre so schön, zu sehen, was aus ihnen wird, wenn sie erst einmal wieder gesund sind!", bemerkte Rahel, die Arme auf den morschen Lattenzaun des Sandplatzes gestützt. Ihr Blick war auf unsere Schützlinge gerichtet, die zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hier freien Auslauf bekamen. Da sie alle zumindest teilweise wieder in einigermassen stabiler Verfassung waren, hatte Mama die Idee gehabt, sie alle auf den Platz zu lassen, damit sie sich ein wenig bewegen konnten. Die Freude darüber, aus der Box rauszukommen, zeigte sich nicht bei allen gleich, aber sie schien allgegenwertig zu sein. Ganymed hüpfte, den Schweif hoch erhoben, zusammen mit Arnhem, der für einmal nicht die erstbeste Gelegenheit zum Koppen ergriff, fröhlich über den Sand, ungeachtet seines ausgezehrten Körpers – ab und an gesellte Birdcatcher sich zu den beiden und drehte eine Runde in unkontrolliertem Tempo, bevor er wieder schwer atmend und mit bebenden Flanken wie verwurzelt stehenblieb.
Gleichzeitig galoppierten Boudicca und Jeriga etwas gleichmässiger um den Platz herum, nur vereinzelt blieben sie stehen, um kurz im Sand zu scharren oder nach einem der andern Pferde zu schnappen. Baelish streckte seinen langen Hals, so gut es eben ging, unter der untersten Zaunlatte hindurch und versuchte so, ein paar grüne Halme von der Wiese nebendran zu erhaschen. Dabei wurde er misstrauisch beäugt von Oneida, die, das Fell staubig vom Wälzen, neben einer unsicher wirkenden Moses stand. Das zierliche Fuchsstütchen wiederum schien Schutz bei Awan und Lacrima zu suchen, die sich in seliger Ruhe gegenseitig putzten.
„Ja, finde ich auch. Wenn es nach mir ginge, würden wir sie behalten...", druckste Fabienne, die grossen Augen wehmütig auf ihre Hände gerichtet, die an einem abgebrochenen Splitter Holz herumspielten. Ein Schnauben erklang, als Elin sich uns zuwandte. „Du weisst, dass das nicht geht, Fäbe. Es ist so schon schwer, einen Hof zu halten, der nicht rentiert." Ich sah, wie das kräftige Mädchen kurz unverwandt zu Hadeel rüberstarrte, wie sie sie vorhin schon die ganze Zeit beobachtet hatte. Hadeel und ihre Familie waren heute zu Gast auf dem Erlhof. Mama hatte es unter dem Stichwort ‚Integration' vor ihrer Stieftochter gerechtfertigt, die natürlich so erfreut wie ein Huhn auf der Schlachtbank gewesen war. „Warum muss die ausgerechnet am 1. August kommen? Kannst du sie nicht irgendwann einladen, wenn ich nicht da bin?", hatte sie getobt.
Meine Mutter hatte daraufhin erklärt, warum es wichtig sei, die Mourads gerade heute einzuladen. Ihre Argumente hatten mir sogar eingeleuchtet, auch wenn ich nicht daran glaubte, dass Hadeel über die ganze Sache glücklicher war als Elin, wenn ich mir ihr Gesicht so ansah. Versteinert blickte sie rüber zu Jeriga und bewegte keinen Muskel. Nur der dunkle Stoff ihres weiten Oberteils flatterte ab und an im leichten, nach Regen riechenden Wind, sodass sie etwas weniger wie eine Statue anmutete. Sie sah aus, wie sie immer aussah – als versuchte sie, sich von der Aussenwelt abzukapseln und ihr so zu entkommen. Als wollte sie ganz weit weg sein. Und nun schielte Elin zu ihr rüber, als wäre es ihre Schuld, dass wir die Schützlinge nicht behalten konnten.
„Aber Ernst...", begann Fabienne hoffnungsvoll, wurde jedoch von ihrer grossen Schwester unterbrochen. „Ernst Beyeler hat die Pferde freigekauft, noch mehr können wir nicht von ihm verlangen. Wir stehen so schon in seiner Schuld", murrte Elin, „Und hör auf mit diesem Splitter zu spielen, du stichst dich noch!" Barsch riss sie das Holzstück zwischen Fabiennes Fingern hervor und warf es davon. Ein paar Minuten lang herrschte beklemmende Stille, in der wir alle nur die Pferde beobachteten, bis schliesslich die Stimme meiner Mutter uns aus unserer Trance riss.
„Hey, Mädels! Bringt ihr die Pferde bitte langsam wieder rein? Bevor das Feuerwerk anfängt, sollten sie wieder in den Boxen sein!", rief sie uns zu. Neben ihr stand die Familie Mourad – Faiza, die ein kleines Mädchen in wahllos zusammengewürfelter Kleidung auf dem Arm trug, und Rigel, der von seinen zwei Söhnen flankiert wurde. Die Jungen, wohl schon erwachsen, oder zumindest kurz davor, erwachsen zu werden, hatten düstere Augen und unsorgfältig geschnittenes, dichtes schwarzes Haar, doch sie sahen beide nicht unfreundlich aus. „Ja, machen wir!", rief Elin zurück, sich hastig umdrehend und zum Tor marschierend, ohne das kleine Grüppchen weiter zu beachten. Schulterzuckend folgten wir andern ihr, eher langsam gesellte Hadeel sich ebenfalls zu uns.
Auf ein Nicken hin eilten auch ihre Brüder hinterher, beide ein verlegenes Lächeln auf den gebräunten Gesichtern. „Gebt Maimun und Wahid doch auch ein Pferd! Vielleicht nicht gerade Birdcatcher, wenn es geht...", hörte ich Mama noch hinzufügen, bevor sie mit Faiza, Rigel und ihrer kleinen Tochter wieder zurück zum Haus ging, um das Abendessen vorzubereiten. Urs' Grilladen roch man jedenfalls schon bis hierher. Fabienne reckte, während dem sie Oneida an ihrem Halfter packte, einen Daumen in die Höhe. Ich meinerseits seufzte, denn ich wusste, was diese Anordnung hiess. Die Mourad-Brüder würden Awan und Lacrima kriegen, da die zwei die einfachsten Pferde waren.
Ergeben nahm ich die alte Fuchsstute und ihren Sohn und führte sie rüber zu den beiden Jungen. „Hier, vorsichtig!", ermahnte ich sie und drückte ihnen je ein Tier in die Hand. Beide nahmen sie ehrfürchtig entgegen, der Grössere, der mir Awan abnahm, strich dem Wallach über die riesigen Ganaschen, bevor er Fabienne und Oneida folgte, seinen Bruder im Schlepptau. Ich beobachtete eine Sekunde lang, wie Maimun und Wahid in ihren ausgelatschten Schuhen in Richtung Stall gingen, bevor ich mich wieder umdrehte und Arnhem zu fassen bekam. „So, wieder rein mit dir!", murmelte ich den rauchbraunen Pferd zu.
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Erlkönig
Подростковая литератураAus dieser Nacht, die mich umhüllt, von Pol zu Pol schwarz wie das Grab, dank' ich welch' immer Gottes Bild die unbezwung'ne Seel' mir gab. Ein Leben lang sah es so aus, als stünden Sereina Pignatelli alle Türen offen, denn wer Talent, Ehrgeiz und D...