𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏𝟐: 𝐈𝐦 𝐇𝐞𝐫𝐳𝐞𝐧 𝐮𝐧𝐞𝐫𝐬𝐜𝐡𝘂̈𝐭𝐭𝐞𝐫𝐭

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Es war schon später Abend, als Elin die Haustüre so leise wie möglich hinter sich schloss und, gekleidet nur in Pyjamahosen und eines von Papas alten T-Shirts, über den Innenhof rüber zum Stall schlich. Auf halbem Weg trat ihr eine graue Gestalt aus den Schatten in der halb offenen Scheune entgegen und starrte sie scharrend an. Es war Herbert, der wohl wieder bei den Kälbern übernachtete. Während dem Elin erstarrte, machte der Esel einen kleinen Schritt auf sie zu und schüttelte den Kopf mit den übergrossen Ohren. „Ich warne dich, wenn du das tust, dann...", begann das Mädchen und hob warnend einen Zeigefinger, doch da hatte Herbert schon freudig sein schrilles I-ah ausgestossen, das laut wie ein Nebelhorn über den ganzen Hof schallte. Im Haus antwortete augenblicklich infernalisches Gebell, als Lenado und Aspen, die vorhin noch friedlich auf dem Teppich im Wohnzimmer gedöst hatten, erwachten. „Du bist so was von tot, du Bettvorleger!", zischte Elin wütend, doch der Esel zottelte trotzdem frohen Mutes auf sie zu, das schützende Dach des Kuhstalls verlassend.
Über ihr konnte sie hören, wie sich nach einigen Sekunden das Fenster des Elterschlafzimmers öffnete und das ohrenbetäubende Schnarchen ihres Vaters in die feuchte Luft hinausdrang. „Elin, was machst du so spät noch draussen?", gähnte Verena, den Oberkörper leicht ins Freie streckend, und schüttelte fragend den Kopf. Das Mädchen stöhnte genervt und schwindelte: „Tut mir leid, ich glaube, ich hab' noch mein Handy bei den Pferden liegen. Ich geh's nur schnell holen." Sie wusste genau, dass ihr Handy oben in ihrem Nachttisch lag, aber sonst würde ihre Stiefmutter nur wieder denken, sie hätte sich zu einem nächtlichen Ritt rausgeschlichen. Obwohl Elin beinahe sicher war, dass man ihr die Lüge von weitem hatte ansehen und –hören können, schluckte Verena die Ausrede und nickte müde. „Okay, aber beeil' dich und komm nachher gleich wieder rein, sonst erkältest du dich noch!", wies sie sie an, dann schloss sie das Fenster wieder. Erkälten? Warum sollte sie sich denn erkälten, dachte Elin. Ein bisschen Nieselregen war doch nichts Schlimmes.
Zügigen Schrittes ging sie weiter über das Kies des Innenhofes, Herbert folgte ihr. „Glaub ja nicht, dass du jetzt von mir auch noch eine Karotte bekommst! Alles, was ich dir heute noch gebe, ist ein Freipass zum Schlachthof, dort können sie Salami aus dir machen!", fauchte das Mädchen den Esel an, welcher sich von ihren bösen Worten jedoch nicht im Geringsten beeindrucken liess. Er erlaubte es sich sogar, sich vorzudrängeln, als Elin das Tor zum Stall aufschob, und bahnte sich zügig den Weg nach hinten zur Box von Ganymed, den er offenbar als neuen besten Freund auserkoren hatte.
Gambino, der den trippelnden Schritt von Herbert sofort erkannt hatte, erhob sich wiehernd aus dem weichen Einstreu, in dem er sich gerade wälzte, und trabte zum Tor des Offenstalls, aber der Esel kümmerte sich nicht um den braunen Andalusier. Enttäuscht prustete er dem grauen Tier hinterher, Elin tätschelte ihm mitleidig die Ganaschen. „Sorry, Kumpel, aber du wurdest glaube ich ersetzt", meinte sie, woraufhin Gambino nur noch trauriger aussah. Das Mädchen lachte und drückte dem Braunen ein Küsschen auf die wehmütig geblähten Nüstern. „Du weisst doch, dass Herbert ein Player ist! Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du dich mit ihm eingelassen hast!"
Begleitet von Gambinos Wiehern, das von Herbert geflissentlich überhört wurde, machte sich Elin, im Vorbeigehen zielsicher den Lichtschalter an der Innenwand treffend, weiter nach hinten zu den Boxen auf, wo sie mit warmem Brummeln begrüsst wurde. Zehn Pferde streckten ihre Köpfe über die Türen, woraufhin Dourada, die bis anhin friedlich mit Maribel im zweiten Offenstall geschmust hatte, erschrocken davonsprang.
„Angsthase!", neckte Elin die Falbstute. Dass sie jetzt auf beiden Seiten von Nachbarn eingekesselt war, schien ihr gar nicht zu passen. Aber daran hatte sie sich zu gewöhnen. Wenn die zehn Schützlinge erst einmal in den Offenstall durften, würde sie entweder ihren teilen oder auf einen separaten, kleineren Auslauf ausweichen müssen, anders ging es nicht. Irgendwann musste sie sowieso lernen, mit Pferden auszukommen, die grösser als Maribel waren, immerhin würde ihr der Luxus, einen ganzen Offenstall nur für sich und die kleine Shetty-Freundin zu haben, sowieso nicht ewig zuteilwerden.
„Na hallo!", begrüsste Elin die zehn Geretteten, von denen die meisten gerade gefressen oder getrunken hatten. Sie sollten es sich ruhig gut gehen lassen, nach allem, was sie erlebt hatten, hatten sie sich mehr als verdient. Wenn das Mädchen sich die ausgemergelten Körper und stumpfen Felle so ansah, war es sicher nicht übertrieben zu sagen, dass diese Pferde über Monate, wenn nicht sogar Jahre hinweg gelitten hatten.
Langsam, beinahe zögerlich, ging Elin zu der Box, auf deren Tür ein schlampig aufgeklebtes Schild mit der Aufschrift ‚Boudicca' prangte. Als sie die Arme auf das Holz des Tors legte, drehte sich die schwarzbraune Stute in der Box zu ihr um und stiess ein tiefes Grummeln aus, kam jedoch nicht rüber. Viel mehr durchbohrte sie sie mit ihren dunklen Augen, die genervt zu fragen schienen: „Was willst du hier?" Ein ungebeugter Stolz ging von der Art, wie sich das fast nachtschwarze Tier hielt, aus, Stolz, der Elin beinahe Angst einjagte. Wie war es möglich, dass dieses Tier, das dem Tod gerade noch vom Karren gesprungen war, so viel Würde verstrahlte?
Boudicca war nicht einmal besonders gross oder besonders edel gebaut, sie war sogar eher klein und unscheinbar. Das einzige, was ihr einen Hauch von Besonderheit verlieh, war, wie hoch sie ihren fein geschnittenen Kopf trug und wie erhaben sie mit ihren schmalen Beinen durch das Stroh stakste. Und ihr Blick. Dieser Blick... Er wollte Elin gar nicht mehr loslassen, er hielt sie gepackt wie ein Greifvogel und war ebenso scharf wie dessen Krallen. Seit sie sie gestern aus ihrem Gefängnis geführt hatte, konnte das Mädchen das Feuer in diesen Augen nicht mehr vergessen. Da loderte etwas in dieser Stute, das sie all die Zeit über auf dem Gestüt Falknis am Leben erhalten hatte. Etwas Mächtiges, Unbezwingbares. Kaum greifbar, aber spürbar bei jedem Blinzeln.
„Na, Mädchen?", wisperte Elin leise, als Antwort kam ein lautstarkes Schnauben zurück. Boudicca machte einen Schritt auf das Mädchen zu, nur einen einzigen, und blieb dann stehen, die Ohren gespitzt. „Weisst du, ich habe herausgefunden, woher du deinen Namen hast...", begann Elin und streckte zaghaft eine Hand nach den rostbraun ummantelten Nüstern des Pferdes aus. Es kam nicht näher, aber es hörte ganz genau zu, das konnte das Mädchen spüren. „Vor fast zweitausend Jahren, da gab es eine keltische Königin, die hiess gleich wie du", fuhr sie leise lächelnd fort. „Sie hat eine Rebellion angeführt und hat es beinahe geschafft, England von den Römern zu befreien. Nach allem, was ich über sie gelesen habe, glaube ich, dass sie die mutigste Frau war, die je gelebt hat."
Boudicca scharrte und schlug schnaubend mit dem Kopf, die Nüstern leicht verzerrt. „Vielleicht schaust du ja darum immer so grimmig aus, wenn du jemanden ansiehst", kicherte Elin. „Oder setzt du einfach nur diese Kriegsgrimasse auf, weil du nicht willst, dass man dich anfasst?" Sie schaffte es, sich so weit nach vorne zu lehnen, dass sie kurz die Nase der dunklen Stute kraulen konnte. Sofort entriss diese sich ihr und funkelte das Mädchen pikiert an, dann drehte sie sich desinteressiert um und widmete sich wieder ihrem Heu. Elin grinste, verabschiedete sich von Boudicca und nahm sich vor, morgen gleich als erstes wieder nach ihr zu sehen.

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