Es war ziemlich unangenehm, mich von Elin auf dem Gepäckträger kutschieren zu lassen und an ihr festzuhalten zu müssen, aber es war allemal besser, als auf dem Erlhof zu bleiben und darauf zu warten, dass Philipp wieder in mich reinlief. Die Fahrt verlief schweigend, ich war zu beschäftigt damit, Körperkontakt mit dem stämmigen Mädchen zu vermeiden, aber trotzdem nicht runterzufallen, und Elin gab sich alle Mühe, in die Pedale zu treten wie eine Irre. Auf Nachfrage meinerseits meinte sie, dass sie schon zu spät sei und ich ihr beim Satteln helfen müsse, wenn ich auf dem Nachhauseweg wieder mitfahren wollte.
Als wir auf den Hof einbogen und unter dem hübschen Bogen durchfuhren, war es schon fünf vor zehn und Elin sah sehr gestresst aus. „Also, ich hole Putzkiste und Sattelzeug, du gehst schon mal zu Kalany und holst sie raus. Die Box ist die drittvorderste von links, wenn du von der Halle her kommst, du siehst es schon!", wies sie mich ausser Atem an und warf ihr Fahrrad unachtsam in eine Ecke. Sie wartete nicht einmal darauf, dass ich zustimmte, sondern joggte mit flatterndem Pferdeschwanz los in Richtung eines kleinen Anbaus am Stall, der vermutlich die Sattelkammer war. Also zuckte ich mit den Schultern, wischte mir noch einmal über die Augen und machte mich dann zügig humpelnd auf zum grossen Tor. Beim Aufschieben verhielt ich mich so leise wie möglich und schlüpfte lautlos ins Innere, damit mich niemand in der Halle bemerkte. Die Bande war geschlossen, aber ich hörte dumpfen Dreitakt und die Stimme von Ernst Beyeler, also war sie nicht leer. Eilig ging ich rüber zur Mündung der Stallgasse, froh darüber, dass niemand zu sehen war. Ich hätte mich jetzt um keinen Fall mit Carlos oder gar Miranda rumschlagen wollen. Carlos war zu fröhlich und Miranda zu eingebildet.
Von gestern wusste ich noch, wo Kalany stand, weshalb ich keine Mühe hatte, sie zu finden. Der Rappe hob interessiert den Kopf, auf dem eine keilförmige Blesse prangte, als ich das fuchsiafarbene Halfter von der Tür nahm und ins Innere der Box ging. Mit einem Seufzen streifte ich der schwarzen Stute das Halfter über und führte sie auf die Stallgasse hinaus, wo ich sie an den Gitterstäben der Box anband. Gerade richtig, denn gleichzeitig, wie ich den Knoten beendete, kam Elin vollbeladen herbeigehastet. An ihrer Schulter hing ein mexikanisches Zaumzeug, über ihrem rechten Arm ein Springsattel mit fuchsiafarbener Satteldecke, und in der linken Hand hielt sie eine grosse Putzkiste. „Wie hast du das alles hier rübergebracht? Ist dir das nicht tausendmal runtergefallen?", fragte ich heiser und nahm ihr die Putzkiste ab, wobei ich einen Blick auf einen stählernen Bizeps und muskulöse Unterarme erhaschte. Alles klar, Elin nur grinste schief, weil sie begriff, dass ich begriffen hatte. „Jahrelange Hofarbeit. Dann hättest du auch solche Arme", meinte sie, die Ausrüstung über die Boxentür hängend.
Unaufgefordert öffnete ich die Putzkiste, nahm einen Hufauskratzer raus und machte mich an die Arbeit. Kalany war glücklicherweise recht sauber, nur ein wenig Einstreu klebte auf ihrem hohen, schwarzen Rücken und in ihren Hufen hatte sich matschiger Kies, vielleicht vom Auslauf auf einem Paddock, gesammelt. So schafften ich und Elin es doch tatsächlich, die Rappstute bis um sieben nach zehn fertig zu satteln und in die Halle zu bringen, wo Ernst Beyeler schon mit tadelndem Blick wartete.
„Sieben Minuten zu spät, Fräulein Schmucki!", bemerkte er kopfschüttelnd und zog eine angegraute Augenbraue hoch. „Sorry, bi z spaat losgfahrä. Chunnt nümä vor", entschuldigte Elin sich hastig, mir Kalany abnehmend, und führte sie, während dem sie sich den Helm aufsetzte, zum Treppchen. Ich blieb zuerst ratlos an der Bande stehen, bis ich von Ernst Beyeler in die Hallenmitte gewinkt wurde. Mit Seitenblick auf Elin, die geschickt auf die grosse Stute raufkletterte, und bemerkend, dass wir nicht alleine in der Halle waren, folgte ich der Einladung und stellte mich neben den älteren Herrn. Misstrauisch beäugte mich Miranda, die gerade dabei war, Ulysses über ein paar Stangen zu galoppieren. Ich biss mir voller Unbehagen auf die Unterlippe und sah weg. Auf die hatte ich gerade wirklich keine Lust.
„Du schaust uns heute zu?", fragte Ernst mit seiner weichen Stimme. Gezwungen lächelnd drehte ich mich zu ihm um und nickte, woraufhin der grauhaarige Mann mich besorgt ansah. „Ist bei dir alles in Ordnung? Du bist irgendwie blass um die Nase..." Mir gelang erstaunlicherweise ein noch breiteres Lächeln, das mir fast den Magen umdrehte, und ich beteuerte: „Ja, alles bestens! Vielleicht liegt es daran, dass ich heute noch nichts gegessen habe." Ich konnte sehen, dass Ernst Beyeler nicht ganz zufrieden war, doch er bohrte nicht weiter nach, sondern konzentrierte sich auf Elin, die Kalany mittlerweile auf den Zirkel gelenkt hatte. "Na dann wollen wir mal, meine Liebe!", rief er dem stämmigen Mädchen zu, die Arme vor der breiten Brust verschränkend.
DU LIEST GERADE
Erlkönig
Novela JuvenilAus dieser Nacht, die mich umhüllt, von Pol zu Pol schwarz wie das Grab, dank' ich welch' immer Gottes Bild die unbezwung'ne Seel' mir gab. Ein Leben lang sah es so aus, als stünden Sereina Pignatelli alle Türen offen, denn wer Talent, Ehrgeiz und D...