𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟐𝟖: 𝐕𝐨𝐧 𝐌𝐢𝐭𝐥𝐞𝐢𝐝 𝐮𝐧𝐝 𝐑𝐞𝐬𝐩𝐞𝐤𝐭

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Durch die aufkommende Nacht schallte ein Schrei, kaum hörbar über das Krachen der Feuerwerke. Es waren erst das laute Bellen der Hunde und Rebekkas weissblonder, über den Innenhof flatternder Schopf, der uns innehalten und verdutzt zu dem auf uns zurennenden Mädchen rüberschauen liess. „Verena! Verena!", rief sie atemlos und stürmte auf die Veranda, wo das vom Wohnzimmer nach draussen strömende Licht rote Flecken auf ihrem blassen Gesicht enthüllte. Ich sah zu meiner Mutter rüber, die eben dabei gewesen war, die Teller zusammenzuräumen – nun stellte sie den Stapel wieder hin und runzelte die Stirn. „Was isch los?", fragte sie erstaunlich gelassen dafür, wie nervös Rebekka die Augen aufriss. Schwer atmend blinzelte das zierliche Mädchen in meine Richtung, bis es endlich herausbrachte: „Es ist Lacrima. Sie hat sich erschrocken und ist hingefallen!"
Sofort spürte ich, wie ein heisser Schuss durch meinen Körper fuhr und mein Puls in die Höhe schoss. „Was?", entsetzte ich mich, einen hastigen Schritt auf Rebekka zutretend. Sie zuckte zusammen, ihr Blick huschte unsicher zwischen mir und meiner Mutter hin und her. „Sie...das Feuerwerk... Sie ist ausgerutscht und gegen die Wand gekracht", keuchte sie an uns beide gewandt. Mein Herz, das mir bis zum Hals pochte, setzte einen Schlag lang aus. Ein heisses und gleichzeitig kaltes Gefühl breitete sich von meinen Fingern und Zehen aus - ich wusste nicht, was es war, aber es packte mich und drückte mir auf die Kehle. Aufgeweckt vom Trubel kam nun auch Fabienne nach draussen, die die letzte halbe Stunde wie ein Stein auf dem Sofa geschlafen und somit sowohl das Dessert, als auch den überschwänglichen Abschied der Mourads verpasst hatte. Das dunkelhaarige Mädchen murrte etwas unverständliches, sich die Augen reibend, während dem Mama das Gesicht verzog.
„Und jetzt, geht es ihr gut?", bohrte sie nach. Zügig wischte sie sich die vom Abwaschen nassen Hände an der Hose ab und scheuchte Rebekka runter von der Veranda. Fabienne machte Anstalten, mitzukommen, wurde aber von Elin zurückgepfiffen, die mir mit einem knappen Nicken zu verstehen gab, dass ich entlassen wurde. Dankbar zwang ich mich zu einem schwachen Lächeln, bevor ich meiner Mutter hinterhereilte. So schnell es meine Flip-Flops erlaubten, schloss ich zu ihr und Rebekka auf. Lenado und Aspen sprangen bellend an uns hoch und brachten das zierliche Mädchen beinahe zu Fall, liessen jedoch von uns ab, als von irgendwo her Herberts I-ah über den Innenhof schrillte. Vor den beiden andern erreichte ich das Tor, das weit offen stand, und beeilte mich, in den Stall zu kommen.
„Hier!", rief Rahel, kaum hatte sie mich erblickt, und winkte, wie wenn wir nicht alle gewusst hätten, wo Lacrimas Box war. Das blonde Mädchen hatte die Boxentür leicht offen gelassen und strich der Fuchstute beruhigend über den dürren Hals, während dem diese furchtvoll mit den Augen rollte. „Habt ihr ihr denn keinen Baldrian gegeben?", wollte Mama wissen und schob sich an mir vorbei die Stallgasse nach hinten, ich folgte hart schluckend. Als ich das Blut sah, das aus Lacrimas linker Nüster auf das Stroh tropfte, wurde mir einen Moment lang schlecht, aber die aufwallende Sorge zwang mich dazu, dennoch bis vor ihre Box zu gehen. „Doch, schon, aber sie hat so viel davon ausgespuckt", verteidigte Rebekka sich, ihre grosse Schwester blieb still. Mein Blick zuckte zu den andern Pferden, die alle seltsam schläfrig an ihrem Heu nagten oder einfach nur dastanden. Sogar Birdcatcher stand ausnahmsweise still und schien dem Dösen nahe zu sein. Und an Lacrimas Boxenwand klebten, wie immer, angetrocknete Resten von halb gekautem Futter. Jetzt war es das in weiser Voraussicht mit Baldrian versehene Müsli, das die Bretter verschmierte.
„Ja, da nützt es herzlich wenig...", schnaubte meine Mutter und schüttelte daraufhin entschuldigend den Kopf. Einen Moment lang sah sie schweigend Lacrima an, deren Nase von roten Schlieren bedeckt war, dann trat sie nach vorne und nahm das Gesicht der alten Stute in ihre Hände, diese wehrte sich nicht. Fachmännischer als ich es bei jemanden, der kein Tiermedizinstudium absolviert hatte, erwartet hätte, spähte sie in das blutende Nasenloch, zuckte jedoch nur ein paar Sekunden später seufzend mit den Schultern. „Hat sie sich den Kopf angeschlagen?" Rahel rollte die babyblauen Augen nachdenklich nach oben und verzog dann ratlos ihr Gesicht: „Keine Ahnung, das ging so schnell. Vielleicht? Vielleicht auch nicht..." Mama zupfte einen Strohhalm von Lacrimas Nase und starrte ein paar weitere Sekunden ins Nichts, bevor sie ihr Handy aus der Hosentasche zog. „Alles klar, ich ruf' jetzt den Doc an. Sicher ist sicher."

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