12. März 2051, 06.48 Uhr

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Nie hatte er geglaubt, dass das Institut so gewaltig wäre. Immerzu hatte er sich in denselben Teilen aufgehalten, hatte niemals einen anderen Bereich betreten, als sein Zimmer, sein Labor und den Testraum. Doch nun erstreckte sich ihm ein ganzes Labyrinth. Zahlreiche weiße Gänge, beleuchtet von dem kalten Licht der Neonröhren.

Auf den Fluren begegnete ihm niemand. Allerdings vernahm er hinter den geschlossenen Türen gedämpfte Stimmen. Unbeirrt schritt er weiter. Seine Chancen auf eine Flucht wollte er auf keinen Fall verringern, indem er sich hinter den geschlossenen Türen umsah und womöglich weiteren Wissenschaftlern und Sicherheitsleuten begegnete. Zwar glaubte er nicht daran, dass man ihn aufhalten könnte, doch ein Risiko wollte er auch nicht eingehen. Zumal er dadurch Zeit verlieren würde. Zeit, die er brauchen würde, um von hier zu verschwinden und dieses widerliche Institut weit, weit hinter sich zu lassen.

Dennoch kam er nicht darum herum, eine der Türen zu öffnen, als es schließlich in einem Gang nicht mehr weiterging. Das Erste, was er sah, waren zwei Zellen, die seiner eigenen gar nicht so unähnlich war. Nur, dass in diese Zellen Fenster hatten, durch die die Wissenschaftler direkt zu ihren Objekten hineinsehen konnten.

Dahinter konnte er jeweils ein Objekt sehen. Leer starrte die Bewohnerin der linken Zelle ins Nichts. Sie schien ihn kaum wahrzunehmen. Ihre Haut wie seinen merkwürdigen bläulichen Schimmer auf und ihre Augen waren seltsam milchig. Immerzu klopfte sie mit ihrem rechten Zeigefinger in regelmäßigen Abständen auf den nackten Boden. Das war aber auch die einzige Bewegung, die sie ausführte. Ansonsten verharrte sie starr.

In der rechten Zelle tigerte ein Junge aufgewühlt hin und her. Seine Ohren liefen spitz zusammen und waren bedeckt von hellem Fell. In seinen Augen funkelte - im Gegensatz zu denen des Mädchens - Leben. Ihm entging der Neuankömmling nicht. Ruckartig blieb er stehen und visierte ihn an. Verharrte in seiner Bewegung, war angespannt. Sofort war ihm klar, dass dieser Neue nicht hierher gehörte.

Auch Kieran betrachtete ihn. Die beiden waren wie er. Oder waren ihm zumindest ähnlich. Genau wie er hatte man ihnen Sera verabreicht. Wie viele konnte er nicht sagen. Aber sie mussten etwa so lange hier sein, wie er. Aus den Unterhaltungen der Professorin hatte er herausgehört, dass sich insgesamt neununddreißig Mutanten hier aufhielten. Die Ersten von mittlerweile deutlich mehr. Das vor ihm waren zwei davon. Doch wo sich die übrigen Mutanten befanden, abgesehen von den ersten neununddreißig, konnte Kieran nicht sagen. Auf jeden Fall waren sie nicht hier.

Natürlich hätte er sie befreien können und zu dritt hätten sie aus dem Institut verschwinden können. Sie hätten einander unterstützen können, aber Kieran entschied sich relativ schnell dagegen. Seine Chancen standen allein deutlich besser. Und wer konnte schon wissen, wie diese beiden sich verhalten würden. Vielleicht wären sie nur eine Last, zumal ihre Befreiung zu einem Zeitverlust führen würde, dessen Ausmaß er nicht bestimmen konnte.

Also wandte er sich von den beiden Zellen ab und schritt auf die Tür am Ende des Raumes zu. Ruckartig riss der andere Junge sich aus seiner Starre, begann ihm zuzurufen und mit aller Kraft gegen das Glas zu schlagen. Da es für Mutanten gemacht war, hielt es selbstverständlich Stand. Und da Kieran bereits entschieden hatte, dass es sich für ihn und sein Überleben nicht lohnen würde, die beiden zu befreien, ignorierte er die nach Hilfe flehenden Rufe. Diese wurden jedoch deutlich wütender, als der Mutant endlich verstand, dass er von Kieran keine Rettung erwarten konnte.

Vor Wut, Frust und Verzweiflung begann der Mutant auf der anderen Seite des Glases zu weinen. Seine Rufe bestanden aus einer Mischung aus Beleidigungen und Flehen. Entschlossen riss Kieran die Tür auf und ein zufriedenes Grinsen ließ sein blutverschmiertes Gesicht furchterregend wirken.

Tatsächlich war er in so etwas ähnlichem wie einer Empfangshalle gelangt. Und noch besser war, dass die Rezeption nicht besetzt war. Hinter dem Tresen entdeckte Kieran eine leicht angelehnte Tür, hinter der er gut gelauntes Geplapper vernahm, wie auch den Geruch von Kaffee. Sein Glück war geradezu unverschämt.

Mit lautlosen Schritten bewegte er sich achtsam durch die Halle. Sie wirkte genauso steril wie der Rest des Gebäudes. Das Klirren von Tassen. Zurückhaltendes Gelächter. Die Tür kam immer näher. Die Freiheit war zum Greifen nahe. Er brauchte bloß noch die Hand auszustrecken. Die Türklinke fühlte sich kühl an. Ohne das leiseste Quietschen schwang die Tür auf und goldenes Licht hieß Kieran sanft und warm willkommen. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein solch warmes Licht auf seiner Haut gespürt zu haben. Er genoss es. Sein Grinsen wurde zu einem Lächeln.

Es war, als würde er eine andere Welt betreten. Eine fremde Welt. Sobald er über die Türschwelle trat, verschwand die karge Welt des Instituts hinter ihm und die Neue öffnete sich ihm. Grün. Sein Gedächtnis erinnerte sich nicht. Noch nie war Kieran eine schönere Farbe untergekommen. So intensiv und lebhaft. Ganz anders als das immer währende Weiß des Ambrosia Instituts. Er war aus der Hölle in den Himmel gestiegen.

Über ihm erstreckte sich der wunderbar blaue Himmel bis in die Unendlichkeit. Ein seichter Lufthauch strich durch Kierans schwarze Locken, liebkoste seine Wangen. Die Schönheit der Außenwelt war unglaublich. Nie, nie wieder wollte Kieran seine neu gewonnene Freiheit aufgeben. Nie wieder würde er zulassen, dass man ihm einen fremden Willen aufzwang. Er würde leben. So, wie er es wollte. Und diejenigen, die das zu verhindern versuchten, würden einen schmerzhaften Tod erleiden.

Entstehungsgeschichte einer BestieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt