20. Juni 2053

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Seine Freiheit war nicht von langer Dauer gewesen. Obwohl er mit seiner Umgebung eins werden konnte, hatte man ihn schließlich entdeckt. Alles wäre gut gegangen. Alles wäre so wunderbar fantastisch gewesen, hätten die Menschen bloß niemals von den Mutanten erfahren. Unbändige Wut loderte in Kierans Eingeweiden.

Er war gar nicht aufgefallen. Wenn er den Wald doch einmal verlassen hatte, hatte er die Menschen in ihren Städten und Dörfern beobachtet. Hatte ihre Lebensweisen studiert. Noch immer kamen sie ihm befremdlich vor. Er verstand ihre Sicht auf die Welt einfach nicht. Verstand ihr Verhalten nicht. Und er glaubte, dass er das auch niemals würde. Aber das war in Ordnung. Ohnehin hatte er nicht vor, dauerhaft unter ihnen zu leben. Ihm gefielen die Freiheit und der Schutz des Waldes. Alles war perfekt.

Bis irgendein Mutant in den anderen Laboren, die er selbst niemals gesehen hatte, da er bloß das Ambrosia Institut kannte, durchdrehte. Somit gelang es den dort gefangenen Mutanten, zu fliehen. Und natürlich dachten sie nicht eine Sekunde lang nach. Stürmten sofort in die Welt der Menschen, verbreiteten Angst und Panik.

Kieran war allein aus Logik nach seiner Flucht vorsichtig gewesen. Hatte sich bedeckt gehalten und im Gegensatz zu anderen Mutanten konnte er es sich erlauben, sich unter die Menschen zu mischen. Diese dämliche Unbedachtheit erfüllte ihn mit Zorn. Denn sie war daran schuld, dass er seine gewonnene Freiheit wieder eingebüßt hatte.

Die Menschen handelten. Mutanten wurden gejagt, als Sklaven genutzt, wieder weggesperrt. Oder, wie in seinem Fall, genutzt, um in den Krieg zu ziehen. Voller Bitterkeit blickte Kieran an sich herunter. Genau wie die unzähligen anderen Mutanten in seinem Lager trug er eine Uniform in Tarnfarben.

Sie hatten kein Wasser. Das war ihnen erst gestern ausgegangen. Ernähren konnten sie sich nur noch von trockenem Brot. Überall erblickte er entkräftete Mutanten. Allesamt noch Kinder. Manche von ihnen weinten. Andere blickten starr ins Leere.

Es wurde nicht geredet. Der dreizehnjährige Kieran ließ sich auf die trockene Erde fallen. Staub wirbelte auf. Hier war nirgendwo das kleinste Fleckchen Grün zu finden. Alles war verdorrt und braun. Unbarmherzig brannte die Sonne am Himmel.

Nicht mehr lange und sie würden wieder ausrücken müssen. Laut den Spähern näherten sich ihnen die feindlichen Soldaten der französischen Armee. Diese bestand bloß aus Menschen, doch die waren bis auf die Zähne bewaffnet. Mutanten, die nicht wie Kieran das Glück hatten, unverwundbar zu sein, konnten selbst mithilfe ihrer Fähigkeiten nicht gegen diesen Kugelsturm ankommen.

Selbst weitaus wendigere, zähere Mutanten waren innerhalb von Sekunden dahingerafft worden. Unzählige blutige Leichen hatten sie bereits zurücklassen müssen. Kieran hasste die Menschen. Sie waren dafür verantwortlich. Allein sie. Und eines Tages würden sie büßen. Schrecklich büßen. Er selbst würde dafür sorgen. Und er würde nicht gnädig sein. Niemals. Denn sie hatten es nicht verdient.

Sollte er es irgendwann schaffen, aus der Armee zu fliehen, würde er sich den Verantwortlichen widmen. Und sie würden sich wünschen, dass Professor Kim ihm ihr fünftes Serum niemals verabreicht hätte. Dass der Kugelhagel ihres Maschinengewehrs ihn vor zwei Jahren durchlöchert hätte.

„Uff." Mit einem gequälten Stöhnen ließ sich jemand neben ihm fallen. Kieran brauchte gar nicht hinzusehen, um zu wissen, um wen es sich handelte.

Der kleine, zierliche Junge verzog vor Schmerz sein Gesicht. Schweißperlen glänzten auf seinem vor Erde und Staub ganz grauen Gesicht. Zogen saubere Linien in den Dreck. Seine Haut hatte die Farbe von Cappuccino. Und obwohl er genauso alt war wie Kieran, wirkte er doch deutlich jünger.

Flavio hatte sich, kaum hatte Kieran sich in der Armee, im Regiment 5, wiedergefunden, an seine Fersen geheftet. Hatte ihn nicht mehr in Ruhe gelassen. Irgendetwas schien er in Kieran zu sehen. Vielleicht eine Art Anker, Beschützer. Bis heute wusste Kieran nicht, was ihn dazu geritten hatte, Flavios Nähe zu akzeptieren. Bisher hatte er auf Nähe immer wie allergisch reagiert.

Vielleicht war es Flavios ruhige, unaufdringliche Art. Denn obwohl er sich oft bei Kieran aufhielt, klammerte er nicht und zwängte ihn nicht ein. Das schätzte Kieran. Und somit hatten sie eine stumme Übereinkunft getroffen. Tatsächlich schätzte Kieran mittlerweile Flavios Anwesenheit. Was ihn selbst überraschte. Doch es war eine gänzlich neue Erfahrung für ihn, so etwas wie einen Freund zu haben. Daran entdeckte er nicht bloß Negatives.

Kieran fragte nicht, ob Flavio noch immer Schmerzen hatte, denn es war offensichtlich. Blinzelnd blickte Flavio hinauf zur Sonne. Seine Augen waren in Hoffnungslosigkeit getunkt, die sie matt erscheinen ließen.

„Ich will nach Hause.", murmelte Flavio. Seinen Worten schwang ein schwacher Akzent mit. Daraufhin runzelte Kieran bloß skeptisch die Stirn. „Ich vermisse meine Eltern und meine Schwestern. Ich vermisse sie so sehr." Er seufzte. Flavio weinte nicht. Tat er nie.

Kieran sagte nichts. Mit Flavios Aussagen konnte er nichts anfangen. Natürlich wusste er mittlerweile, was Eltern, Familie und ein Zuhause waren. Doch er selbst verstand nach wie vor die wirkliche Bedeutung dahinter nicht. Relativ schnell hatte er festgestellt, dass Flavio sich noch an seine Zeit als Mensch erinnerte. Aber das war nicht verwunderlich. Er war keiner der ersten neununddreißig Mutanten. Er war einer von denen, aus den anderen Laboren, aus denen die Mutanten vor einem Jahr in Massen geflüchtet waren.

Flavio war bereits neun Jahre alt gewesen, als man ihn zu einem Mutanten machte. Dementsprechend viel erzählte er über seine Familie und sein Leben davor. Für Kieran klang das alles unheimlich fremd. Immerhin besaß er überhaupt keine Erinnerungen mehr an seine Familie. Aber er erinnerte sich an den Namen, den seine Eltern ihn gegeben hatten. Mehr war ihm nicht geblieben. Und er wusste nicht, was er deswegen fühlen sollte. 

Entstehungsgeschichte einer BestieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt