22. Juni 2053

505 76 4
                                    

„Kieran!" Das Entsetzen stand Flavio ins Gesicht gerieben. Die dunklen Augen groß, weit aufgerissen. Das schmale Gesicht zu einer Fratze verzogen. Der Junge zitterte am ganzen Leib. Bis zum Zusammenbruch fehlte nicht mehr viel. Sein Atem ging hektisch und abgehakt.

„Beruhige dich.", beschwor Kieran seinen Freund. Hätte er verstanden, hätte er helfen können. Doch er erkannte den Grund einfach nicht, weshalb Flavio so aufgelöst war. Aber anders als Flavio war Kieran auch im Ambrosia Institut groß geworden.

„Kieran!", wiederholte Flavio bloß. Dieses Mal war seine Stimme kaum mehr als ein heiseres Krächzen, wie das, eines verletzten Vogels. Stumm flehten seine Augen. Er war wohl die Stille in diesem tosenden Chaos, das um sie herum tobte. Doch wo Chaos war, war Stille tödlich, denn sie bedeutete den Verlust des Geistes. Und Flavio stand kurz davor, sich selbst zu verlieren. In welche Richtung das jedoch gehen könnte, konnte Kieran nur erahnen.

„Wir müssen in Bewegung bleiben!", beharrte der dunklere Mutant und wollte auf seinen Freund losgehen, um ihn notfalls mit Gewalt mit zu zerren. Doch Flavio taumelte nur zurück und Tränen traten in seine Augen, quollen hervor und tropften dick wie die eines Krokodils über sein von Ruß und Schmutz verdrecktes Gesicht.

Seine Kleidung war ganz und gar zerfetzt. Auch konnte man die Tarnfarben kaum mehr erkennen. Weinend stand Flavio seinem Freund gegenüber. Das Zittern wurde immer schlimmer. Tiefe Schnitte hatten die Haut überall an seinem Körper aufgerissen, aus denen rot das Blut quoll. Die Prellungen nahmen bereits eine unschöne grünlich-gelbe Verfärbung an.

„Ich will nicht mehr.", hauchte Flavio. Selbst für Kieran waren die Worte beinahe nicht mehr verständlich. „Bitte. Bitte zwing mich nicht, weiterzumachen." Ein Beben durchfuhr den mageren Körper des Jungen. Doch es waren nicht die Verletzungen, die ihm so sehr zu schaffen machten. Nein, es waren die zerfetzten Leichen zu seinen Füßen.

Blicklos starrten sie ins Nichts, lagen seltsam verrenkt vor ihm. Einige sahen so aus, als wäre ein großes Raubtier über sie hergefallen. Aber Kieran schockierte der Anblick nicht. Er schien das nicht einmal wirklich wahrzunehmen. Für ihn waren die vielen Leichen einfach nicht weiter von Bedeutung. Er hatte nie gelernt, was der Tod oder gar das Töten für die Menschen bedeutete. Und in seinem Herzen war Flavio nach wie vor ein Mensch.

Scheißnass klebte ihm das grau-braune Haar an der Stirn, die schwarzen Fledermausflügel, die er anstelle von Armen besaß, hatte er weit von sich gestreckt. „Bitte.", wimmerte er erneut. Aufgrund des Tränenstroms verschwamm seine Welt in Lärm, Rot- und Brauntönen.

„Du kannst hier nicht weg.", sagte Kieran, auf dessen Gesicht sich ein finsterer, beinahe schon hasserfüllter, Ausdruck gelegt hatte. Und es hatte einen Grund, weshalb sie beide nicht verschwinden konnten. Es war noch nicht allzu lange her, da hatte sich das Chamäleon geschworen, dass er jeden, der ihm seine Freiheit wieder nehmen wollte, vernichten würde. Er hatte seinen Schwur brechen müssen.

Er, der unverwundbare Mutant, war machtlos. Dieses Gefühl erzeugte in ihm beinahe einen noch größeren Hass, als auf die Menschen, die hierfür verantwortlich waren. Menschen waren wohl die verabscheuungswürdigsten Kreaturen, denen er je begegnet war. In ihren eigenen Augen waren sie Götter, die sich die Welt und ihre Bewohner nach Belieben untertan machen konnten. Eines Tages würde er sie eines Besseren belehren. Und diese Erkenntnis würde sie hoffentlich mehr zerstören, als er es je könnte.

„Ich kann nicht.", stammelte Flavio. „Ich kann einfach nicht - " In seine Augen trat ein Ausdruck der Verzweiflung, der Panik. Aber Kieran entging auch der Hauch des ersten wahnsinnigen Schimmers nicht. Flavio wäre nicht der erste Mutant, der auf dem Schlachtfeld dem Wahnsinn verfiel.

Lautes Geschrei, gerufene Befehle und das Kreischen der Verletzten. Erschütterungen durch Explosionen, Kugelhagel. Wenige Meter von den beiden entfernt bohrte sich eine Pistolenkugel in die Stirn eines vielleicht zehnjährigen Jungen. Ohne einen Laut von sich zu geben, ging er zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Hier gab es keine Ordnung mehr. Alle vorherigen Vorbereitungen und Befehle hatten an Gültigkeit verloren. Es ging bloß noch ums Töten oder getötet werden. Die Mutantensoldaten schwirrten entweder wie kleine Kolibris wirr oder panisch umher oder stürzten sich dem Wahnsinn oder des Blutrausches verfallen auf ihre Gegner.

Ob ihre Gegner nun Franzosen oder Russen waren, könnte Kieran egaler nicht sein. Zum einen waren sie Menschen und zum anderen waren seine wahren Feinde die Briten. Denn die waren dafür verantwortlich, dass er hier war. Dass er sich bloß an ein Leben als Mutant erinnerte. Seiner Auffassung nach war er niemals ein Mensch gewesen. Seine erste Erinnerung war seine weiße Zelle im Institut gewesen. Sie würden büßen. Eines Tages.

„Kieran ..." Mittlerweile schwankte Flavio, doch er versuchte auch nicht, seine Arme – falls man das so nennen konnte – zur Hilfe zu nehmen, falls er fallen würde. Noch immer streckte er sie so weit von sich, wie er konnte. Seine Fledermausflügel waren mit unnatürlich dünnen und merkwürdig geformten Armen verbunden. Die Daumen am Ende der Flügelspitze waren kurz und trugen jeweils eine einzige Kralle. Die restlichen Finger bei ihm waren stark verlängert. Und von ebendiesen Fingern tropfte das Blut, das nicht seines war. Fetzen von herausgerissenem Fleisch klebten an ihnen.

Es war das erste Mal gewesen, dass Flavio getötet hatte. In ihren letzten Schlachten hatte sich Kieran darum gekümmert und der Fledermausmutant hatte sich bloß in seiner Nähe halten müssen. Flavio war von sanftem Gemüt und er war durch und durch freundlich. Diese abscheuliche Tat hatte seine Seele zerrissen.

„Mach sie ab, Kieran!", wimmerte Flavio, dessen Geist gar nicht mehr wirklich anwesend schien. „Bitte, mach sie ab. Ich kann sie nicht behalten."

Irritiert runzelte das Chamäleon die Stirn. „Was soll ich abmachen?", fragte er skeptisch.

„Die Arme!", jammerte der andere Junge. „Mach sie ab! Bitte, mach sie ab!"

„Ganz sicher nicht."

Augenblicklich machte Flavios Verhalten eine hundertachtzig Grad Wende. Unbändiger Zorn funkelte in seinen schwarzen Augen und voller Hass starrte der Junge seinem Freund entgegen. „Reiß sie ab!", kreischte er ohrenbetäubend laut, sodass sogar das Lärm des Krieges für einen Moment in den Hintergrund rückte. „Reiß sie endlich ab!"

Verstört blickte Kieran seinen Freund an. „Ich reiße dir deine Arme nicht ab." Wieso sollte er so etwas tun? Außerdem brauchte Flavio seine Arme noch. Und soweit er gesehen hatte, waren sie auch nicht verletzt. Wo also lag sein Problem?

Er erinnerte sich an das erste Mal, als man ihm einen gleichaltrigen Jungen im Ambrosia Institut vorgesetzt hatte. Und auch an das Mädchen, beim zweiten Mal. Kieran verstand das Verhalten der Leute nicht. Und als er damals damit überfordert gewesen war, hatte er sich auch nicht weiter mit diesen Personen beschäftigt. Hatte sich bei dem Jungen der Umgebung angepasst und das Mädchen hatte er ganz einfach getötet. Das Problem war gelöst.

Das leichteste wäre wohl auch, Flavio zu beseitigen. Doch irgendwie brachte Kieran es nicht einmal über sich, über diese Möglichkeit auch nur nachzudenken. So ganz konnte er sich das nicht erklären. Aber im Moment stellte er das auch nicht in Frage. Sie befanden sich auf einem Schlachtfeld und Flavio war kurz davor, seinen Verstand zu verlieren.

„Bitte, Kieran! Diese Dinger haben sie getötet! Diese Dinger gehören nicht zu mir! Das bin nicht ich! Reiß sie ab!" Flavio weinte Rotz und Wasser. Nun zitterten auch seine Beine beängstigend und immer wieder knickten sie leicht weg.

Anders als Kieran hatte Flavio Erinnerungen an sein menschliches Leben. Seine Flügel fühlten sich für ihn nicht natürlich an. Er verabscheute sie. Also bemühte der andere Mutant sich gar nicht erst, seinen Freund aufzuklären, dass die Flügel sehr wohl zu Flavio gehörten und er die volle Kontrolle über sie hatte. Er selbst hatte die gegnerischen Soldaten mit ihnen getötet. Dafür war sein Wille vonnöten gewesen. Von ganz allein hätten die Flügel sich ganz sicher nicht ans Töten gemacht.

„Ich will sie nicht! Ich will sie nicht!", heulte Flavio. Er wollte bloß nicht einsehen, was er getan hatte. Er wollte die Verantwortung nicht übernehmen. Aber das rieb Kieran ihm nicht unter die Nase. Zwar hatte er nicht viel Erfahrung mit den Gefühlen und dem Verhalten anderer, doch immerhin wusste er, wo die Grenze lag. Und diese würde er nicht überschreiten. Nicht bei Flavio.

Gerade wollte er etwas sagen, als sein Freund gequält aufschrie und nach vorne stürzte. In seine linke Schulter hatte sich eine Kugel gebohrt. Schnell genug fing Kieran den Fledermausmutanten auf, der sogleich das Bewusstsein verloren hatte. 

Entstehungsgeschichte einer BestieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt