Zur Strafe ließen sie ihn hungern. Zwar gefiel dies Kieran nicht, aber er nahm es ohne sich zu beschweren hin. Das Regiment 5 und das Training der Elitesoldaten hatten ihn abgehärtet. Außerdem erfüllte es ihn mit Genugtuung zu sehen, wie ratlos und unzufrieden die Severos waren, als sie nicht die gewünschte Reaktion von ihm erhielten. Er arbeitete ganz normal weiter, als hätte er gegessen. Seinen Hunger ließ er sich nicht anmerken und schob ihn in den Hintergrund. Alles hatte ein Ende. Diese Strafe war keine Ausnahme. Zudem wollten die Severos ihn nicht aushungern: Schließlich sollte er noch in der Lage sein, seine Arbeiten auszuführen. Im Notfall könnte er sich in der Nacht sowieso unbemerkt in die Küche schleichen.
Im Gegensatz zu Offizier Preston gaben die Severos sehr milde Bestrafungen ab. Aber an Offizier Preston wollte Kieran gar nicht nachdenken. Der Mann war durch und durch grausam und ohne Mitgefühl. Dennoch änderte das nichts daran, dass er tief in seinem Herzen ein Feigling und ein Häufchen Elend war. Im Stillen wünschte der Mutant sich, den Mann, als er seine Gefühle wiedererlangt hatte, aufgesucht zu haben. Wie ein rachsüchtiger Dämon wäre Kieran aus dem Nichts vor ihm erschienen und hätte sich ausgiebig für das revanchiert, was der Offizier ihm angetan hatte. Aber Kieran war klug genug gewesen, nicht zurückzukehren.
„Neununddreißig, tu endlich mal etwas Sinnvolles!" Mit verkniffener Miene war Mr Severo hinter ihm aufgetaucht. Der Mann stellte sich etwas aufrechter hin und hob das Kinn an. Als ob Kieran dieses Gehabe einschüchtern könnte. Der alte Mann begriff es einfach nicht. Aber es war nicht an ihm, den Menschen zu belehren.
„Da, siehst du das? Der Mülleimer quillt schon wieder über. Hast du keine Augen im Kopf?" Drohend hob Mr Severo seinen Zeigefinger. Die kleinen Augen blitzten dem Mutanten herablassend entgegen. „Wofür ist deine verfluchte Mutation gut, wenn du noch nicht einmal erkennen kannst, wann der Müll rausgebracht werden muss? Wie es aussieht, scheinst du Bestrafungen zu mögen. Und jetzt beeil dich!" Mr Severo schnaubte einmal abfällig, ehe er Kieran allein zurück ließ.
Dieser warf einen kurzen Blick auf den Mülleimer, der noch nicht einmal zur Hälfte gefüllt war. Eines Tages würden die Severos büßen. Und Kieran würde es genießen.
Er griff nach der Mülltüte, zog sie heraus und knotete sie zusammen. Dann verließ er das Haus. Warm schien ihm die Sonne ins Gesicht. Langsam wich der Frühling dem Sommer. Das Grundstück der Severos war alles andere als schön oder gar gemütlich. Das Haus ragte hoch und bedrohlich in den Himmel. Die Fassade war ironischerweise – wie sollte es anders sein? – weiß gestrichen worden. Kieran hasste das Haus abgrundtief. Der Vorgarten bestand beinahe ausschließlich aus einer einfachen, aber pingelig oft gemähten Wiese, die bloß durch einen schmalen, geschlängelten Weg durchbrochen wurde, der zur Haustür führte. Das Grundstück wurde von einem silbernen, hohen Zaun eingegrenzt, der es vom Gehweg trennte und Kieran an einen Gefängniszaun erinnerte, das das gesamte Grundstück sowie die Bewohner einsperrte.
Die Mülltonne befand sich auf der anderen Seite des Zauns, sodass die Mülltonnen auch geleert werden konnten. Wie so oft inspizierte Kieran zuerst seine Umgebung, ehe er den Vorgarten betrat. Vögel zwitscherten fröhlich ihr Lied, aber die anderen Villen in der Straße erschienen ruhig. Um diese Zeit liefen keine Fußgänger die Gehwege entlang oder wässerten ihre Pflanzen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite verschluckte der Wald das Licht der Sonne und tauchte den Boden in Schatten.
Da Kieran wusste, dass sich Jäger in der Umgebung befanden, ging er davon aus, dass diese ihr Lager im Wald aufgeschlagen hatten. Anders als so manch andere Mutanten, konnte Kieran als Mensch durchgehen. Aber er würde nicht einfach annehmen, dass die Jäger, wenn sie denn von seiner Existenz wussten, auch automatisch davon ausgingen, dass er menschlich war. Solche Annahmen waren gefährlich. Er musste immer von allen Möglichkeiten ausgehen, sodass er entsprechend handeln konnte.
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Entstehungsgeschichte einer Bestie
Science FictionEs ist Ende des Jahres 2042, als der junge Kieran Roth seinen Eltern entrissen und entführt wird. Seither wächst er ohne die Erinnerungen an seine Eltern in einem Labor auf. In einem Labor, das gewissenlos Forschung an Kindern betreibt, um an deren...