10. Mai 2058

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Kieran hasste diese Menschen. Oh, wie er sie hasste! Die Severos waren ein Musterbeispiel für menschliche Arroganz und Ignoranz. Das Ehepaar war alt und unausstehlich. Ihre Gehirne weigerten sich, zu akzeptieren, dass die Welt sich verändert hatte und dass nicht immer alles wie zu ihrer Jungend bleiben konnte. Demzufolge verabscheuten die Severos alles, was sie nicht von damals kannten. Das spiegelte sich auch in ihrem Haus wider.

Da der Mutant in einem Labor aufgewachsen war und einige Jahre im Krieg verbracht hatte, hatte er selbstverständlich wenige Kenntnisse darüber, wie eine moderne Einrichtung aussah. Dennoch verriet ihm sein Bauchgefühl, dass die Severos weit davon entfernt waren. Außerdem hielten sie sich so weit wie möglich vom öffentlichen Leben fern, dass sie vermutlich selbst den Überblick über die heutige Zeit verloren hatten. Nur bei einem einzigen Thema folgten sie dem Geist der Zeit: Mutanten.

Jeden einzelnen Tag, der verging, brachten sie ihm ihre Abscheu entgegen. In ihren Augen war er eine Abartigkeit, etwas Widernatürliches. Dennoch waren sie sich nicht zu schade, um sich von ihm fernzuhalten. Wenn sie schon nichts daran ändern konnten, dass er hier war (schließlich glaubten sie, er wäre ihnen von den Behörden zugeteilt worden), dann nutzten sie seine Anwesenheit in vollen Zügen aus. Und Kieran beugte sich dem. So sehr es ihm auch widerstrebte, diesen widerlichen Menschen zu gehorchen, so wusste er doch, dass das hier die Wahl war, die er getroffen hatte. Zu einem gewissen Maße hin war er frei. Immerhin stand es ihm jederzeit frei, zu gehen. Was sollten die Severos großartig dagegen unternehmen? Er würde sie in Fetzen reißen, würden sie versuchen, ihn aufzuhalten.

Aber er zwang sich zur Ruhe. Das tat er nun schon seit fast drei Jahren. Noch war es nicht so weit. Noch war hier zu bleiben seine beste Option. Zwar war er sich recht sicher, dass Flavio und die anderen zumindest nicht mehr aktiv nach ihm suchten, doch nach wie vor Ausschau nach ihm hielten. Er musste den richtigen Zeitpunkt abwarten. Aber so lange war er bei den Severos in Sicherheit.

Ein düsteres Lächeln legte sich auf seine Lippen, während er die graue Küchentheke mit einem nassen Lappen abwischte. Wenn diese beiden erbärmlichen Menschen wüssten, dass er sie bloß für seine Zwecke benutzte und sie ihm sogar unwissentlich und unfreiwillig Schutz boten. Das würde sie zur Weißglut treiben.

Er würde es hier aushalten. Er war geduldig. Und er würde warten. So lange, wie nötig. Bis sich die ersten Veränderungen ankündigten. Wie genau sich diese äußern würden, wusste er nicht. Aber Kieran war sich sicher, dass er sie erkennen würde, wenn es so weit war. Außerdem waren die Severos alte Leute. Selbst ohne sein Zutun würden sie nicht mehr allzu lange leben. Und wenn der Tod seine langen Finger nach ihnen ausstreckte, um sie mit sich zu nehmen, wusste Kieran, was er tun musste. Normalerweise, wenn die Besitzer eines Mutanten starben, kümmerte sich die zuständige Behörde um diesen. Vermittelten ihn an andere Menschen oder schickten ihn an die Front.

Aber Kieran existierte auf dem Papier nicht. Selbst ohne seine Fähigkeiten war er in diesem Fall unsichtbar. Den Behörden war er unbekannt. Weder wussten sie, dass es ihn gab, noch wo er sich befand. Sollten die Severos an Altersschwäche sterben, würde das niemandem auffallen. Sie hatten weder Freunde noch Familie oder andere Bekannte. Nie verließen sie das Haus und selbst Einkaufen gingen sie nicht. Damit beauftragten sie menschliche Kinder, die ihr Taschengeld aufbessern wollten. Doch selbst diese Kinder bekamen das alte Paar nicht mehr zu Gesicht, denn mittlerweile war es Kieran, der an die Tür ging, den Kindern die Liste und das Geld in die Hand drückte.

Auch wusste er, wie Rechnungen zu zahlen waren und wie er Zugriff auf das Geld der Severos erhielt, sodass niemand merken würde, wenn er so tat, als seien die beiden alten Menschen noch lebendig. Er freute sich auf diesen Tag, denn dann würde er ein kleines Stück seiner Freiheit wiedergewinnen. Er hätte ein eigenes Haus, in dem er im Verborgenen leben könnte. Niemand würde etwas merken. Kieran war jung und die Zeit auf seiner Seite.

„Du bist ja immer noch nicht fertig", ertönte eine missgelaunte Stimme. „Zu was bist du überhaupt zu gebrauchen, du widerwärtiger Nichtsnutz?" Ein Blick voller Verachtung bohrte sich in den Rücken des Chamäleons, doch Kieran schenkte dem keine Beachtung. Mr Severo war alt und gebrechlich. Bloß, dass er ein Mensch war, gab dem alten Mann geistig Kraft und ließ ihn dem Mutanten überlegen fühlen. Er konnte nicht ahnen, dass er sich mit solch einem Verhalten von Tag zu Tag in Gefahr begab. Allein Kierans Selbstbeherrschung rettete ihm immer wieder aufs Neue das Leben.

Mr Severo war es nicht wert. Er war bloß ein alter, verbitterter Mann, der mit nichts zufrieden war. Schon gar nicht mit sich selbst. Außerdem konnte das Chamäleon es nicht gebrauchen, sich seinem Hass und seinem Zorn hinzugeben und durch einen blutigen Mord die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn dann müsste er schon beide Severos gleichzeitig auslöschen und das, ohne dass auch nur ein Laut die sicheren Wände des Hauses verließ.

„Solch ein Ungetüm wie du sollte gar nicht existieren", brummte Mr Severo, dessen Augen noch immer angewidert auf dem Chamäleon ruhten. „Du bist noch nicht einmal für etwas gut. Hatten diese fanatischen Wissenschaftler nicht etwas Nützliches kreieren wollen?" Der alte Mann schnaubte verächtlich. „Du hättest gemeinsam mit den anderen misslungenen Experimenten entsorgt werden sollen." Die Worte wollten in Kieran ein feuriges Inferno erschaffen, das verlangte, mit aller Gewalt, entfesselt zu werden, doch er verlor die Beherrschung nicht. Sorgsam erstickte er die Flamme im Keim und schloss die Worte tief in seinem Inneren weg.

Die Flamme des Hasses auf die Menschen erlosch zwar nie vollkommen, doch er hielt sie in sich verborgen, hütete sie wie seinen Augapfel und wartet auf den Tag, an dem er sie mit Sauerstoff füttern und als Inferno auf die Menschheit loslassen konnte. Jetzt würde sie ihm nur Verderben bringen, würde er sie frei geben. Dabei musste er sie für den richtigen Zeitpunkt in sich bewahren.

Bloß das Wissen, dass dieser Zeitpunkt eines Tages kommen würde, beschwichtigte ihn und ließ ihn in solchen Momenten ruhig bleiben. Kieran hatte schon so viel Schlimmeres durchgestanden. Böse Worte würden ihn nicht dazu bringen, seine Deckung und seinen kühlen Kopf aufzugeben. Mr Severo mochte deutlich älter sein als er, doch das änderte nichts daran, dass er sich wie ein kleines Kind benahm.

Der alte Mann, der wieder einmal begriff, dass er den Mutanten mit seinen Worten nicht aus der Reserve locken oder gar provozieren konnte, gab auf, schnaubte noch kurz, ehe er schlecht gelaunt die Küche verließ. Schon lange spielten sie beide dieses Spiel und doch lernte der Mensch es nicht. Niemals würde Kieran auf solche Aussagen reagieren. Denn gerade das wollte Mr Severo doch. Auch, wenn der Mann nicht ahnen konnte, dass Kieran nicht wie er mit Worten, sondern mit Blut, antworten würde.

Nachdem Mr Severo gegangen war, säuberte das Chamäleon noch den Rest der Küche. Allein der Gedanke daran, dass es nicht für alle Ewigkeit so weitergehen würde und er vorhatten, seinen Beitrag dazu zu leisten, hinderte ihn daran, in der Stille der Nacht in das Schlafzimmer der beiden Menschen zu schleichen und sie in ihren Betten sterben zu lassen. Seine Flamme glühte, befand sich aber noch unter Kontrolle. Er musste sich zurückhalten. Nicht alle seine Probleme ließen sich mit dem Tod anderer lösen. Noch musste Kieran sich dem Willen des alten Paares beugen. Aber nicht mehr lange. Dessen war er sich sicher. Fast drei Jahre lang wartete er nun schon hier. Er konnte noch länger warten.

Entstehungsgeschichte einer BestieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt