08. November 2055, 04.30 Uhr

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Die Stimme in seinem Inneren war laut geworden. Mit jeder Trainingseinheit, die er absolvierte, wurde sie kraftvoller. Sie war nicht länger ein Wispern. Sie war ein Brüllen. Ein alter Wunsch, der gewachsen war. Ein alter Wunsch, der nun groß und stark war. Das mentale Gefängnis erzitterte unter seinen Hieben.

Freiheit! Er schrie nach Freiheit! Aber diese würde er niemals erhalten. Neununddreißig war nicht nur ein Gefangener der Forschungsabteilung der Regierung. Er war ein Gefangener seines Selbst. Und er selbst war sein Gefängniswärter.

Damals, im Folterzelt des Offiziers, hatte er sein Innerstes weggesperrt. Hatte die Tür abgesperrt und das Gefängnis ganz tief vergraben, ehe er sogar den Schlüssel weggeworfen hatte. Er selbst hatte sich seine Freiheit genommen. So oft schon hatte er die Chance gehabt, zu entkommen. So oft hätte er das Regiment verlassen können. Wer hätte ihn aufhalten sollen?

Und auch später, als er seine Emotionen weggesperrt hatte, hätte er gehen können. Auf dem Schlachtfeld wäre es ihm ein leichtes gewesen, unbemerkt zu verschwinden. Das Chaos hätte ihn gedeckt.

Als die Frau im Blazer kam, hätte er das Präparat nicht schlucken müssen. Es hätte ausgereicht, bloß so zu tun. Immerhin hatte er gewusst, was geschehen würde, wenn er es schluckte. Demnach hätte er einfach so tun können, als habe er das Bewusstsein verloren.

Aber er hatte sich selbst sabotiert. Hatte selbst zugelassen, dass man ihm die Freiheit vorenthielt. Es war entgegen aller Logik.

Sein Blick war so leer wie immer, als er zusah, wie Doktor Benton die Mutanten, einen nach dem anderen, aus ihren Zellen holte, um ihr Training fortzusetzen. Zuletzt kam er zu Neununddreißig. Es war vollkommen unlogisch, sich diesen Menschen unterzuordnen.

Nach dem Training, so sagten Benton und ihr Ausbilder, sobald sie Elitesoldaten seien, dürften sie ein Zuhause haben. Sie dürften wie eine Familie zusammenleben und auch ihre zukünftigen Aufträge gemeinsam ausführen. Ihnen würde ein Haus zur Verfügung gestellt werden. Sie würden sich frei bewegen dürfen, solange sie ihre Pflichten erfüllten.

Zweihunderteins und den anderen genügte das. Es war alles, was sie sich einst gewünscht hatten, da sie auch gewusst hatten, dass es niemals wieder so wie früher werden würde. Wie früher, als sie noch Menschen gewesen waren. Das war logisch. Für sie.

Aber nicht für ihn. Ihm reichte das nicht. Er wollte seine Freiheit. Und die bekam er nicht, würde er hier bleiben. Würde er sich ihnen unterordnen. Die Regierung interessierte ihn nicht. Sie konnte ihm nichts bieten. Sein Wunsch verzehrte sich nach der vollkommenen Unabhängigkeit. Er brauchte kein Zuhause. Er brauchte kein Haus. Nichts davon bedeutete Freiheit. Es wäre nur ein weiteres Gefängnis.

Benton, wie auch die Entsandten der Regierung und die Gutachter, waren überzeugt, dass sie die uneingeschränkte Loyalität der Emotionslosen hatten. Immerhin konnten sie ihnen das bieten, wonach sich das Überbleibsel ihres damaligen Selbst verzehrte.

Sie brauchten nicht zu erraten, was das war. Für sie war es offensichtlich. Doch dabei vergaßen sie, dass nicht alle Mutanten über den gleichen Wunsch verfügten. Neununddreißig, der nie ein Zuhause gehabt hatte, der noch nicht einmal wusste, wie so etwas war, wollte etwas anderes. Vor langer Zeit hatte auch er Sehnsucht nach einem Zuhause verspürt. Aber das stand für ihn nicht an erster Stelle. Er, der sein Leben lang in Gefangenschaft verbracht hatte, wusste, was wirklich wichtig war.

Darum war es logisch, dass er entschieden hatte, nicht bleiben zu wollen. Nicht dienen zu wollen. Und heute war es so weit. Er wusste, wie er vorgehen würde.

„So, Neununddreißig.", sagte Doktor Benton, als er seine Hand auf das Glas legte und diese gescannt wurde. „Viel Erfolg bei deinem Training. Bald schon hast du es geschafft. Dann werdet ihr sieben in ein schönes Haus im Grünen ziehen." Lautlos glitt die Glaswand beiseite und Neununddreißig zögerte nicht. Ohne Vorwarnung schoss er vor, seine Hand verformte sich zu einer Klaue, seine Fingernägel wichen Krallen.

Der Doktor konnte bloß noch erstaunt glucksen, ehe er entsetzt seine Augen aufriss und mit seiner Hand an seine Kehle griff. Rot floss. In gleichmäßigen Intervallen sprudelte es hervor, verließ das fleischliche Gefängnis und nahm das Leben mit.

Neununddreißig durfte hier niemanden am Leben lassen. Hier wusste man von ihm. Niemals würden sie ihn gehen lassen. Schon gar nicht, nachdem er so gefährlich geworden war. Nicht mehr lange und er hätte seine Ausbildung zum Elitesoldaten abgeschlossen. Dann hätte man ihn und die anderen auf flüchtige und ungehorsame Mutanten losgelassen.

Er kannte das Regierungslabor. Er wusste zu viel. Sein Wissen kombiniert mit seinen Fähigkeiten wären tödlich. Wenn er sie am Leben ließ, würden sie ihn niemals in Ruhe lassen. Sie würden ihn jagen. Und diese Jagd würde nur mit dem Tod enden. Entscheidend war, wessen Tod es letzten Endes sein würde.

Erschrocken schrie eine junge Forscherin des Teams auf. Panisch drückte sie ihnen Notfallknopf, den jeder von ihnen besaß. Augenblicklich erloschen die Lichter. Stattdessen entflammte eine rote Lampe, die den Raum in dunkles Licht hüllte.

Die Forscherin kam nicht weit. Der rote Blitz hatte sie geholt. Fast gleichzeitig mit den restlichen fünf Forschern und Assistenten. Blieben bloß noch die anderen Mutanten. Drei von ihnen befanden sich hier mit ihm in diesem Labor. Die anderen drei hielten sich ein paar Räume weiter auf.

Wortlos stürzte Zweihunderteins sich auf ihn. Die gewaltigen schwarzen Schwingen legten sich wie eine Mauer um ihn, verschluckten die Außenwelt. Und Zweihunderteins drückte. Jedem anderen Mutanten hätte er bereits alle Knochen gebrochen. Aber nicht ihm. Er konnte ihn bloß hier festhalten, während die anderen beiden zu noch weit weniger fähig wären. Darum hielten sie sich im Hintergrund und beobachteten. Sollte es nötig sein, würden sie eingreifen. Sie ließen ihn nicht aus den Augen. Ihre Sinne waren geschärft. Auf ihn gerichtet. Langsam versuchte Zweihunderteins Neununddreißig zurück in seine Zelle zu schieben.

Anders, als um die Zelle zu öffnen, brauchte man zum Schließen keinen Hand-Scan. Das Chamäleon würde nicht zulassen, dass die Fledermaus ihn wieder einsperrte. Auf keinen Fall.

Aber wegen seiner Flügel kam er im Moment nicht an seine Kehle heran. Doch Neununddreißig wusste, dass Zweihunderteins nach wie vor Schmerz verspüren konnte. Entschieden spannte das Chamäleon die Klaue an und mit den Krallen voran bohrte sie sich in das Herz seines Gegners.

Zweihunderteins krampfte sich zusammen und gab ein ersticktes Geräusch von sich. Doch wie er es gelernt hatte, behielt er sich unter Kontrolle. Ließ nicht zu, dass der Schmerz und seine Verletzung zuließen, dass er seine Pflicht nicht erfüllen konnte.

Dennoch verloren seine Flügel für einen Augenblick an Spannung und sein Griff an Kraft. Dieser Augenblick genügte Neununddreißig. Er entriss sich den Flügeln und war sofort zurück gehastet, da die beiden anderen Mutanten nun eingriffen. Blitzschnell reagierten sie, doch sie waren nicht schnell genug.

Anscheinend musste das Chamäleon nun seinen eigentlichen Plan verwerfen. Eigentlich hätte er die anderen drei Mutanten getötet, da sie sich ihm definitiv an die Fersen heften würden. Und anders als die Agenten der Regierung standen ihre Chancen gut, ihn zu finden und zu überwältigen. Das durfte er nicht zulassen. Aber die Zeit war gegen ihn.

Etwa zwei Minuten waren vergangen, seit der Alarm losgegangen war. Und da jeder Alarmknopf auch gleich die Informationen darüber vermittelte, welcher Raum betroffen war, wusste man bereits, dass es um eines der Speziallabore ging, in dem die Elitesoldaten ausgebildet wurden. Demnach würde man die schwersten Geschütze auffahren.

Er durfte nicht noch mehr Zeit verlieren. Geschickt und mit ungeheurer Geschwindigkeit wich er den anderen Mutanten aus und war auch schon aus der Tür verschwunden. Sein Weg aus dem Regierungslabor war gepflastert mit Leichen.

Entstehungsgeschichte einer BestieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt