Eigentlich war es überraschend, dass die Regierung erst so spät auf die plötzliche Emotionslosigkeit der Mutanten reagierte. Immerhin ließ sich dieses Phänomen, seit es erstmals im Regiment 5 aufgetaucht war, auch in anderen Regimenten wiederfinden.
Dennoch war es eigentlich bloß eine Frage der Zeit gewesen, bis die Regierung ihre Leute entsandte, um sich dem zu widmen. Trotzdem tauchten sie urplötzlich auf.
Verzweifelt versuchte die Morgensonne sich durch eine dicke Schicht aus Wolken und Nebel durchzukämpfen. Niemand schlief mehr. Alle gingen ihren Tätigkeiten nach oder bemitleideten sich selbst, soweit sie dazu noch im Stande waren.
Geschäftig trat Offizier Preston vor, als er die Neunankömmlinge bemerkte. Jedoch war ihm anzusehen, dass er sich in ihrer Gegenwart nicht allzu wohl fühlte. Vor den Entsandten der Regierung salutierte er. „Sir!"
Die Entsandten bestanden aus zwei Männern, von denen beide in dunkle Anzüge gekleidet waren und ernst dreinschauten, sowie einer Frau im Blazer. Das rote Haar hatte sie zu einem strengen Knoten nach hinten gebunden.
„Rühren.", sagte einer der beiden Männer gelangweilt. Offizier Preston rührte sich.
„Sir, was führt Sie hier her?", wollte Offizier Preston verwirrt wissen. Vermutlich war er der Einzige, der nicht ahnte, was los war, während alle anderen um ihn herum es bereits verstanden hatten. Leises Getuschel brach aus, während die Emotionslosen, um die es ging, schwiegen.
Nun trat die rothaarige Frau vor. „Wir sind wegen der Gefühllosen gekommen.", informierte sie ihn. „Wir werden ein paar von ihnen auswählen und mitnehmen."
„Mitnehmen?", wiederholte Preston stutzig.
„Genau.", erwiderte die Frau. „Dieses Phänomen muss unbedingt erforscht werden. Eine auf Mutationen spezialisierte Abteilung unserer Labore hat sich bereit erklärt, sich dieser Aufgabe zu anzunehmen."
„Ich möchte Ihnen ja nicht widersprechen, doch diese Mutanten gehören dem Militär.", meinte Preston. „Sie sind die Soldaten, die wir brauchen, um gegen den Feind zu marschieren."
Die Rothaarige hatte bloß einen abschätzenden Blick für den Offizier des fünften Regiments übrig. „Das ist uns sehr wohl bewusst, Offizier Preston.", sagte sie. „Darum werden wir auch nur sieben dieser Mutanten mitnehmen. – Außerdem, nur für den Fall, dass sie es vergessen haben sollten: Das Militär untersteht der Regierung."
Abrupt lief Preston hochrot an. Ob vor Scham oder vor Wut war nicht zu sagen. Doch er schluckte seine Gefühle herunter und salutierte. Bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, hatte die Frau im Blazer sich bereits von ihm abgewandt. Ihr Blick schweifte über die Mutanten, die sich außerhalb der Zelte aufhielten.
Einer der Männer trat vor. „Soldaten, sammeln!", brüllte er den Befehl. Augenblicklich zuckten manche der Kinder zusammen und schneller als die Entsandten schauen konnten, strömten auch die Mutanten aus den Zelten herbei und innerhalb kürzester Zeit standen die Mutanten in Reih und Glied.
Forschend musterten die Frau und einer der Männer die Mutanten. „Sammelt euch in zwei Gruppen. Rechts stehen die Gefühllosen und links die anderen!", sprach die Frau. Schnell teilten die Mutanten sich auf und sammelten sich neu. Der linken Gruppe wurde keinerlei Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Sie war nicht weiter interessant.
Nun lagen alle Blicke auf der rechten Gruppe, die etwa ein Drittel dieses Bataillons von Regiment 5 ausmachte. Knapp nickte die Frau den beiden Männern zu, dann teilten die drei sich auf und schritten aufmerksam die Reihen ab. Jeden Einzelnen der Mutanten musterten sie eingehend.
Prüfend griff die Rothaarige das Kinn eines Mädchens und betrachtete ihr Gesicht, drehte es einmal nach links, einmal nach rechts. „Du.", befahl sie schließlich. Mit einer knappen Geste bedeutete sie dem Mädchen, aus der Gruppe zu treten und sich abseits aufzustellen.
Einer der Männer war bei Zweihunderteins angekommen. Nur kurz musterte er ihn, ehe er ihn auch schon aufforderte, zu dem Mädchen zu gehen.
Wäre Neununddreißig noch Kieran gewesen, hätten in ihm bereits alle Alarmsirenen geschrillt. Er hätte sich gewehrt. Hätte zu verhindern gewusst, dass sie Zweihunderteins mitnahmen. Niemals hätte er zugelassen, dass Flavio erneut zu einem Forschungsobjekt herabgestuft wurde. Aber da ihm seine Gefühle abhandengekommen waren, hätte ihm das alles nicht gleichgültiger sein können.
Auf einmal blieb die rothaarige Frau vor ihm stehen. Grob packte sie sein Gesicht und wendete es, um es besser betrachten können. Der alte Kieran hätte ihr bereits die Kehle aufgeschlitzt. Doch dieser hier, Nummer Neununddreißig, blieb ganz ruhig. Ließ die Frau tun, was sie nicht lassen konnte und beachtete sie kaum weiter.
„Du.", sagte die Rothaarige im Blazer. „Dorthin." Ohne etwas zu erwidern trat Neununddreißig aus der Reihe und ging zu den anderen, mittlerweile fünf Mutanten, die bereits ausgewählt worden waren. Etwas in ihm regte sich. Ganz leise und unbemerkt. Kein Gefühl, das nicht. Aber ein Wunsch. Ein alter, aber doch unglaublich starker Wunsch. Ein Wunsch, den er bereits gehabt hatte, als er noch im Ambrosia Institut gelebt hatte. Der Wunsch nach Freiheit.
Verzweifelt erhob sich der noch sehr kleine Wunsch, klopfte leicht gegen die mentalen Gitterstäbe. Aber er war noch zu winzig und kraftlos, um großartig etwas bewirken zu können. Und so blieb er ungehört.
Kurz darauf hatten die Regierungsentsandten sieben Mutanten ausgewählt.
„Mr. Dickens, Sie dürfen.", sagte der andere Mann und der ihm Unterstellte trat auf die Mutanten zu. Aus einem schmalen schwarzen Koffer, dem bisher keiner Notiz geschenkt hatte, zog er sieben Ampullen und sieben Spritzen. Augenblicklich wurden die anderen Mutanten nervös, doch die Emotionslosen rührten sich nicht.
Zuerst ging Mr. Dickens zu dem Gefühllosen, der ihm am nächsten stand, füllte die Spritze mit der bläulich schimmernden Flüssigkeit aus der Ampulle, die eine gewisse Ähnlichkeit zu Frostschutzmittel aufwies und ließ sie in der Blutbahn des Mutanten verschwinden. Binnen weniger Sekunden kippte er um und es war, als wären einfach seine Lichter ausgeknipst worden. Wie bei einem Roboter, bei dem man bloß den Aus-Knopf betätigen musste.
Die gleiche Prozedur erfolgte noch dreimal, ehe Mr. Dickens vor Neununddreißig stehen blieb.
„Halt.", sagte die Frau im Blazer plötzlich. „Die Nadel würde seine Haut nicht durchdringen." Natürlich wusste sie bereits, wen sie da vor sich hatte. Schließlich hörte bekam man nicht alle Tage zu hören, dass ein Mutant so gut wie unzerstörbar war. Schnell wurde Neununddreißig klar, dass sie von Anfang an vorgehabt hatte, ihn mitzunehmen.
Sie zog ein kleines schmales Päckchen aus der Innentasche ihres Blazers und öffnete es. Zum Vorschein kam ein winziges Präparat, kaum größer als ein Reiskorn. „Schlucken.", befahl sie, als sie es Neununddreißig reichte. Sie brauchte ihm nicht zu sagen, dass es nichts bringen würde, es auf den Boden zu werfen und darauf herum zu treten. Zum einen hätte sie noch drei weitere dieser Präparate gehabt und zum anderen war es Neununddreißig sowieso egal. Er wusste, dass dieses Ding ihn nicht töten würde. Schließlich brauchten sie ihn lebend.
Also schluckte er dieses seltsame kleine Präparat. Im ersten Moment bemerkte er nichts. Im zweiten Moment wurde ihm ganz schummrig. Die Welt um ihn herum begann zu verschwimmen, als bestände die Welt auf einmal aus Wasserfarben, die ineinander verliefen. Schließlich wurde aus den vielen Farben Dunkelheit.
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Entstehungsgeschichte einer Bestie
Ficção CientíficaEs ist Ende des Jahres 2042, als der junge Kieran Roth seinen Eltern entrissen und entführt wird. Seither wächst er ohne die Erinnerungen an seine Eltern in einem Labor auf. In einem Labor, das gewissenlos Forschung an Kindern betreibt, um an deren...