𝐭𝐡𝐞 𝐭𝐞𝐧𝐭𝐡 𝐜𝐡𝐚𝐩𝐭𝐞𝐫

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||Leander||

Ich fühlte nichts und trotzdem war es das Gefühl welchen einen am meisten tötete. Es fühlte sich so an, als würde man mich innerlich mit einem zackigen Messer, welches aus Eis bestand, langsam und quallvoll erstechen. Ich weiß nicht, ob mich die Wunden, welche mir das Messer hinzugefügt haben verbluten oder die Kälte erfrieren lässt. Aber eins weiß ich: Dieses Gefühl lässt mich tief hinab, in eine endlose Dunkelheit gleiten, welche mich mit ihren langen, klauen Fingern packen und mich in der Finsternis ertränkten.

Ich stieß meinen Kugelschreiber an, sodass er über den Tisch rollte. Er rollte über Kratzer und verschmierten Nachrichten und erzählte von längst vergangenen Tagen. Der Stift rollte zu mir zurück. Erneut stieß ich ihn an. Mein Blick folgte dieser Bewegung.

Ich sirrte vor mich hin. Aufpassen war eine schier unüberwindbare Aufgabe, an der ich schon beim Startschuss gescheitert war. Warum tat ich mir das an? Ich könnte heulen, wenn ich diese Aufgaben sah. Sie sind so einfach und ich kapiere es einfach nicht.

Neben mir saß Phillipp und er schien das komplette Gegenteil von mir zu sein. Er passte auf, er konnte dem Lehrer zuhören und legte den Fokus auf die Aufgaben, welche sich auf dem weißen Blatt befanden. Aber ich wusste, dass auch er sich hier nicht wohlfühlte. Sein Bein wippte unkontrolliert auf und ab.

Erneut stieß ich den Stift weg von mir und beobachtete wie er sich klappernd auf seine kleine Reise machte.

Ich legte meinen Kopf auf die Tischplatte und schaute ins Nichts.

Die Stimme unseres Lehrers Mr. Miller klang stockend und heißer, was mich in einen Dämmerzustand brachte. Schon seit geschlagenen dreißig Minuten redete der alte Mann, mit den Schneeweißen Haaren ohne Pause vor sich hin und erzählte uns etwas zu Revolution in Russland im Jahr 1917.

Ich kapiere es einfach nicht.

Frustriert schaute ich zu meinem Tischnachbarn. Seit heute saß der Neue, Phillipp, in Geschichte, neben mir. Schon die ganze Zeit wippte er nervös mit seinem Fuß auf und ab oder trommelte mit seinen Fingern auf seinen Knien herum.

Und trotz dessen war sein Arbeitsblatt ausgefüllt. Komplett. Unauffällig schielte ich auf sein Arbeitsblatt und versuchte von ihm abzuschreiben.

Phillipps Blick huschte immer wieder unruhig durch den Raum, sobald er ein plötzliches Geräusch hörte, welches nicht in den Unterricht zu gehören schien. Das ist mir schon am Vortag aufgefallen. Er verhält sich den ganzen Tag über so als wäre er auf der Flucht, als würde er nur darauf warten das etwas Schreckliches passiert.

Vielleicht war er ja in seinen früheren Leben ein kleiner Hase gewesen und zu Tode gehetzt worden. Das würde sein Verhalten erklären. Ich schüttelte meinen Kopf. Eigentlich sollte ich doch am besten Wissen, dass Menschen immer einen Grund für ihr Verhalten haben.

Vorsichtig rutsche ich ein Stück näher um noch besser auf seine Aufgaben schauen zu können.

Doch sobald ich mich ihm genähert hatte, ist er zusammengezuckt. Ich erstarrte in meiner Bewegung. Phillipp spannte sich noch mehr an. Er atmete kurz tief durch, so als wolle er sich selbst überzeugen, dass ich ihm nicht wehtat.

Und als ich mich schon wieder wegdrehen wollte, wandte Phillipp seinen Kopf zu mir. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Keine Ahnung warum, aber ich war auf einmal ganz aufgeregt. Unauffällig wischte ich mir meine nassen Hände an der Hose ab.

Fragend sah er mich aus seinen großen, leeren braunen Augen an. Sie glichen einem dunklen See, in welchen die Monster aus den alten Seemannsgeschichten lauerten. Der See war so furchtbar tief, und dunkel und trüb, sodass ich den Boden nicht erkennen konnte.

a silent voice | ᵇᵒʸˣᵇᵒʸ |Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt