𝐭𝐡𝐞 𝐟𝐨𝐮𝐫𝐭𝐞𝐞𝐧𝐭𝐡 𝐜𝐡𝐚𝐩𝐭𝐞𝐫

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|| Leander ||

Müde schlürfte ich mich in die Küche. Zwar hatte ich heute Nacht geschlafen aber trotzdem fühlte ich mich so ausgelaugt wie eh und je. Die Müdigkeit lag schwer an mir, so als wäre sie ein Rucksack der mit Steinen gefüllt war und den ich tragen musste. Ich öffnete den Kühlschrank und holte mir die Flasche mit dem Orangensaft heraus.

Mein kleiner Bruder kaute zufrieden auf einem Marmeladenbrot herum und um seinen ganzen Mund klebte das süße, rote Zeugs. Meine Mum hantierte mit der Pfanne herum. Es war ein schönes Bild, meine Familie so zu sehen. Und wieder einmal fragte ich mich, wie sie reagieren würden, wenn ich nicht mehr da wäre. Ich seufzte. Warum war ich überhaupt noch hier? Warum musste er gehen und ich durfte bleiben? Es war verdammt nochmal nicht fair.

„Schau Mal Leander", grinste Tobey mich an und entblößte seine Zähne. Ich trat zu ihm hin und tat erstmal so, als hätte ich die Zahnlücke nicht gesehen. „Was ist denn?", fragte ich deshalb und trank einen Schluck des gelben Saftes. Tobey grinste mich an. „Ich habe einen Zahn verloren", erzählte er mir stolz. „Das ist ja toll, zeig mal deine Zahnlücke her", forderte ich ihn begeistert auf und Tobey entblößte seine Zähnchen.

„Oha", sagte ich. „Da ist ja voll das große Loch. Hat das nicht wehgetan Großer?", fragte ich meinen kleinen Bruder. Tobey schüttelte wild den Kopf. „Hat es nicht, weil ich bin ja schon groß", behauptete er stolz.

„Und an wem lag das noch?", ertönte auf einmal die Stimme meines Stiefvaters hinter uns und wir drehten uns um. „Ja, aber du hast ihn nur rausgezogen", behauptete mein kleiner Bruder trotzig und ich wuschelte ihm durch die Haare. Derweil ging Sven zu meiner Mum und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

Hinter ihren Rücken jedoch, wollte er sich eine Scheibe Schinken schnappen. „Mr. Jones", fauchte meine Mum ihn an und schlug ihn mit dem grün gestreiften Geschirrtuch auf die Finger. „Pfoten weg oder du putzt das ganze Haus." Sofort zog mein Stiefdad seine Finger weg.

Meine Mum murmelte irgendwas vor sich hin, was sich wie „Du undankbarer Idiot" anhörte. Scheinheilig schlürfte ich meinen Orangensaft. Sven drehte sich zu mir um. „Leander, heirate niemals, vor allem keine Frau", warnte er mich und ich zuckte mit den Schultern. „Hatte ich nicht vor", sagte ich und bekam einen empörten Blick von meiner Mum.

~*~

Unsere Englischlehrerin erklärt gerade irgendwas und schien nicht zu bemerken, dass keiner aus der Klasse ihr zuhörte. Ich hatte meinen Kopf nachdenklich auf meine Handfläche gestützt und driftete immer weiter in meine Welt der Gedanken ab. Mein Blick verlor sich auf dem Weg aus dem Fenster. Heute hatte die Sonne es irgendwie geschafft sich aus ihrem Wolkengefängnis zu befreien und versuchte sich jetzt mir ihren Strahlen zu entschuldigen. Doch kaum einer glaubten ihr, denn ihre gesamte Aura war von einer bitteren Kälte umhüllt.

Mein Blick fiel auf Phillipp. In dieser Stunde saß er alleine und ich hatte das Gefühl, dass es ihm genauso recht war. Sein Bein wippte nicht durchgehend auf und ab und auch sonst wirkte seine Haltung entspannter als sonst. Wenn ich doch nur wüsste, was in seinem Kopf vorgehen würde. Vielleicht wäre ich ja dann in der Lage in von seinen Dämonen zu befreien. Ein klein wenig neidisch beobachte ich ihn, wie er seinen Stift in einem Wahnsinns Tempo über das Aufgabenblatt schießen ließ.

Mir kam unsere Begegnung von gestern in den Sinn. War es richtig gewesen, ihm zu helfen? Hatte Nicklas vielleicht doch recht und er hätte es alleine geschafft? Aber warum hatte er dann so dankbar gewirkt, als ich ihm geholfen hatte?

Frustriert seufzte ich auf und legte meinen Kopf in meine Arme. „Verstehst du es auch nicht?", flüsterte Nicklas und riss mich somit aus meinen Gedanken. „Was?", murmelte ich, noch immer nicht ganz anwesend. „Na diese Aufgabe", meinte er und deutete auf das leere Arbeitsblatt vor mir, dass nur darauf wartete beschrieben zu werden und spätestens am Ende des Schuljahres im Mülleimer zu landen.

a silent voice | ᵇᵒʸˣᵇᵒʸ |Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt