|| Phillipp ||
Endlich klingelte es zum Ende der letzten Stunde. Der erste Schultag war zu meiner Erleichterung ohne irgendwelche Zwischenfälle an mir vorbeigezogen. Aber was mochte das schon heißen? Nur weil der erste Tag ruhig war, hieß es nicht, dass es ruhig bleiben würde.
Ich hatte ihre Blicke auf mir gespürt.
Sie warteten.
Warteten auf einen Fehler meinerseits.
Warteten darauf, dass ich etwas Ungewöhnliches mache, um es gegen mich zu verwenden.
Ich krallte mich in die Träger meines Rucksacks, um das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Ich hatte versucht, meine Angst zu unterdrücken, doch dies stellte sich als so schwierig heraus, wie einem Fisch das Atmen an Land beizubringen.
Mein Fuß hatte den ganzen Tag in einem schnellen, gleichmäßigen auf und ab gewippt und meine Finger hatten nervös mit meinen Stiften gespielt.
Meine Sitznachbarn haben mich deswegen immer und immer wieder komisch angesehen, als hätte ich einen fetten Pickel im Gesicht oder wäre irgendein schleimig grünes Monster vom Mars. Mein Kopf raunte mir zu, dass ich bereits versagt hatte. Dass meine Chance, einen guten Start zu haben, längst wie Sand durch meine Finger gerieselt war.
Mit jedem Blick, denn sie mir schenkten, fühlte ich mich wie ein Ausstellungsstück in einem Museum. Sie konnten nichts dafür, das wusste ich, aber dieses Verhalten war seit Jahren fest in mir verankert. Ich konnte es nicht einfach abstellen. Es war, als wäre es ein Motor in mir, der arbeitete, um mich am Leben zu halten.
Und egal wie lange und intensiv sie mich beobachten, es würde der Moment kommen, an dem sie alles gesehen hatten und es langweilig wurde. Und wie jeder wusste, überlebten langweilige Sachen nicht lange in der Ausstellung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich satthatten und begannen mich zu terrorisieren, weil sie nichts anderes zu tun hatten.
Vielleicht dachten sie auch, dass, weil ich nicht sprach, ich auch nichts von meiner Umwelt mitbekam. Doch das tat ich, mehr als ich sollte. Ich hörte ihr Geflüster, wenn niemand hinsah und die genauso auffälligen Blicke, die so hervorstachen wie die Farbe Pink im Winter.
Sie konnten es nicht wissen, dass ich alles mitbekam, was sie taten. Sie wussten nicht, dass beobachten und analysieren meine Überlebensstrategie der letzten Jahre gewesen war. Es war so witzig, dass es schon wieder wehtat, wie blind die meisten für ihre Umwelt waren. Niemand sah, was um ihn herum wirklich passierte. Niemand wagte es hinter die Mauern zu schauen, aus Angst, etwas Schreckliches zu sehen. Ich musste nie hinter die Mauern schauen, da ich dort lebte. Und vielleicht war irgendwo in mir der heimliche Wunsch, dass es mehr Menschen wagen würden, auf die andere Seite zu schauen. Dann gäbe es vielleicht die geringe Chance, dass diese blinde Welt das Sehen erlernen würde.
An meinem Spind angekommen, legte ich meine Bücher hinein und ging anschließend nach draußen. Vorbei an den schnatternden Schülern, deren Stimmen die Luft füllten und sich durch die Gänge schnellstmöglich nach draußen drängten, da sie es nicht erwarten konnten nach Hause in ihre freie Zeit zu gehen. Als ich aus dem stickigen Gebäude hinaustrat lies ich den Geruch von Papier und Schweiß hinter mir. Die kühle Luft war eine Wohltat für meine Seele und gab mir zum ersten Mal an diesem Tag das Gefühl atmen zu können.
Mit meinen Augen suchte ich das Auto meiner Tante und als ich es fand ging ich darauf zu. Je weiter ich das Schulgebäude hinter mir ließ, desto besser fühlte ich mich. Es war, als würde ich aus dem Krieg zurückkehren und wissen, dass es jetzt vorbei war.
Und je besser ich mich fühlte, desto mehr wurde Platz für etwas anders in mir. Irgendetwas sagte mir, dass es okay war, so zu fühlen, nach all der Zeit. Jedoch konnte nicht jeder, dieses Gefühl akzeptieren. Es war ein stetiger Kampf, den ich langsam aber sicher gewann. Denn ich wollte gesund werden. Ich wollte so normal leben können, wie ich es schaffen könnte. Doch solange diese beiden Gefühle im Krieg mit mir waren, hatte ich Probleme, mich in den normalen Alltag einzufügen.
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a silent voice | ᵇᵒʸˣᵇᵒʸ |
Teen FictionEs hat einen Grund, warum Fische im Wasser leben. Es hat einen Grund, warum Vögel fliegen können. Es hat einen Grund, warum ich schweige. Phillipp und Leander könnten kaum unterschiedlicher sein. Doch eine Sache verbindet sie beide: Der eine verlor...